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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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getroffen. Erde und Paradies würden nie zu einer Einheit verschmelzen; hier jedoch, auf dem höchsten Gebirge der Erde, sind die Menschen dem Himmel nahe. Hier oben, so erzählt man, geht die Schöpfung ewig weiter. Sag, Atan, wie vergehen die Tage, am Rande des Paradieses, wenn über die geraden Straßen im Tal die Dämonen ziehen?
    Wir blieben noch zwei Tage in der Einsiedelei. Ich nutzte die Gelegenheit, um zusammen mit Paldor Lhakyi die Verletzten zu pflegen. Sie würden hier Obdach finden, bis ihre Wunden geheilt waren; sie durften um keinen Preis den Argwohn der Chinesen erwecken. Nach der Sprengung der Brücke waren Polizei und Militär in höchster Alarmbereitschaft. Für alle Tibeter bestand nach wie vor Ausgangssperre, die Sicherheitskräfte verbreiteten Terror. Auch 368
    würden die chinesischen Machthaber versuchen, einen linientreuen Mann im Kloster einzusetzen; aber das würde ihnen wohl schwerfallen, meinte Atan. Parteitreue Äbte waren hierzulande unbeliebt.
    Von Chokra hatte ich erfahren, dass Longsela sich unbedingt den Schauspielern anschließen wollte, um bei Yuthok all die Lieder zu lernen, die Kunsang gesungen hatte. Sie träumte davon, als
    »Prinzessin« auf der Bühne zu stehen. Die Rolle des »Jägers«
    machte ihr keine Angst. Chokra war anfangs betroffen gewesen. Sich von seinem Töchterchen trennen? Sie dem entbehrungsreichen Leben der Schauspieler aussetzen? Unvorstellbar! Aber Longsela hatte sich sehr beharrlich gezeigt. Schließlich hatte Chokra seine Zustimmung gegeben und lediglich die Bedingung gestellt, dass Longsela zunächst weiter die Nomadenschule besuchte. Danach würde man weitersehen. Longsela hatte arg geschmollt, aber zum Schluss war es Paldor Lhakyi gewesen, der mit einem Machtwort zugunsten des verunsicherten Vaters Longsela derart eingeschüchtert hatte, dass diese nicht mehr zu widersprechen wagte.
    In dieser letzten Nacht hatte ich tief und traumlos geschlafen. Ich erwachte früh; ein Luftzug strich über mein Gesicht, ein rosa Lichtschein ließ mich blinzeln. Die Mönche waren beim Gebet; ihre Stimmen schwangen in dem tiefen Rhythmus, den ich so liebte. Und es war, als flutete ein mächtiges Vibrieren aus der Erde unter meinen Füßen in mich ein. Die ganze Höhle sang, gewaltig wie eine steinerne Flöte, von den Geistern selbst erschaffen, zu ihrer eigenen Ehre, solange die Berge bestanden und die Sternbilder kreisten.
    Atan war schon wach, sein Schlafsack bereits verschnürt und zusammengerollt; ich dachte an die Nächte unter dem Sternenhimmel, alleine mit ihm, an die geborgte Zeit. Zeit wozu?
    dachte ich. Sich daran zu erinnern? Nein, ich wollte keine geborgte Zeit. Ich wollte eine Zeit, die mir gehörte: mein Stückchen Ewigkeit.
    Ich befreite mich aus dem Schlafsack und ging über die knarrenden Bretter. Vor der Höhle brannte ein Feuer warm und hell, der Wasserkessel zischte. Chokra, Atan und einige andere Nomaden kneteten Tsampa, die sie mit dem üblichen Trockenkäse verzehrten.
    Ich ging an ihnen vorbei zum Bergbach. Die verschneiten Gipfel leuchteten orangerot, die Kiefern hoben sich wie Scherenschnitte vor dem veilchenblauen Morgenhimmel ab. Die Gebetsfahnen flatterten mit seidigem Geräusch wie gurrende Tauben, die Pferde grasten auf einer Lichtung, und ganz in der Nähe murmelte der Wildbach. Auf 369
    jedem Blatt, jedem Grashalm glänzte ein Tautropfen, in dem sich die Sonnenstrahlen brachen. Hinter ein paar Felsen zog ich mein verschwitztes Zeug aus, wusch mich von Kopf bis Fuß. Die Kälte schmerzte auf der Haut. Es tat gut. Fröstelnd trocknete ich mich ab, zog frische Sachen an, kämmte und flocht mein Haar. Als ich mich auf den Rückweg zur Höhle machte, sah ich in einiger Entfernung, an einen Felsen gelehnt, einen kleinen Schatten. Ich schaute genauer hin und erkannte Longsela. Nun erhob sie sich und kam mir schlendernd entgegen. Die bunten Fäden in ihrem Haar leuchteten in der Sonne.
    Ich lächelte ihr zu.
    »Ja, Longsela? Was ist?«
    Sie schluckte, dann hob sie den Kopf und sah mir in die Augen.
    »Ich wollte dir etwas sagen, bevor du fortgehst. Die Kata, die Seine Heiligkeit gesegnet hat.“. die sollst du haben!«
    Ich wollte ihr sagen, dass Kunsangs letzte Gabe für sie bestimmt gewesen war, doch sie schüttelte heftig den Kopf, bevor ich widersprechen konnte.
    »Du bist für Kunsang zu uns gekommen; mein Vater hat mir alles erzählt. Und jetzt ist Kunsang tot. Aber bevor sie starb, hat sie den Boden der Höhle berührt… heiligen
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