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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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dickwattierten Steppdecke zur Nacht betteten. Zwei kleine, fröhliche Kinder, die einander neckten. Chodonla und ich trugen die gleichen Farben, hellblau und rot, die gleichen bestickten Pantoffeln, die Mutter uns nun von den Füßen streifte. Wir kicherten und lachten, während sie unsere Fußsohlen kitzelte und uns in Wolldecken einhüllte, die mit grüner Seide bezogen waren. Und ich sehnte mich plötzlich so sehr, so sehr danach, dieses Bild in mir zu bewahren, es nie zu vergessen, dieses Bild des vergangenen Glücks, der ewigen Sehnsucht. Doch schon erstarrten beide Kinder in ihrer Bewegung, in ihrem Lachen: Die Vision trübte sich wie ein ferner bunter Fleck, dessen Farben in 364
    Tropfen ausliefen, verblassten. Die Stimme sang immer noch: »Shi-li-li«, aber irgendwie eingeschüchtert, zögernd, immer leiser. Und plötzlich war nur noch Stille da, endgültig wie ein Schnitt zwischen Gestern und Nie mehr, und ich sah im Feuerschein Longselas betroffenes Gesichtchen. Sie blickte mich an, etwas erschrocken, als ob sie befürchtete, vorlaut gewesen zu sein. Doch ich spürte Feuchtigkeit auf meinen Wangen; die Tropfen, die ich erschaut hatte, waren meine eigenen Tränen. Und dann fühlte ich eine Bewegung neben mir, und Kunsang sagte:
    »Sie singt gut, he? Besser als ich…«
    Mein Blick klärte sich, ich sah, wie sie Longsela ein Zeichen gab, näher zu kommen. Das Kind tat, was sie wünschte; ihr Zöpfchenkranz, mit bunten Fäden umwickelt, neigte sich über die Sterbende. Mit unsicheren Fingern zerrte Kunsang an der Glücksschärpe, versuchte sie von ihren Schultern zu nehmen. Ihre Augen wanderten ziellos umher, und ihre Finger tasteten über den rußgeschwärzten Boden, so dass sich der Abdruck ihrer Hand auf dem weißen Stoff abzeichnete.
    »Ich… ich brauche sie nicht mehr…« Kunsangs Stimme war nur noch ein Röcheln. »Longsela soll sie haben…«
    Die Kleine riss ihre Augen weit auf, und die Freude über eine derart kostbare Gabe vermengte sich mit ihrer offensichtlichen Vorstellung, dass sie eigentlich nicht wusste, womit und weshalb ihr dieses Geschenk zuteil wurde. Ihre Lippen waren zu einem stummen Protest fest zusammengepresst, als Kunsang ihr mit letzter Kraft die Schärpe um die zarten Schultern legte.
    »Du wirst singen, Longsela!… Ich kann… nicht mehr!«
    Ihr Gesicht war so fahl wie der dämmernde Winterhimmel, ihr Atem wurde schwach, schwächer, dann rasselte er wieder.
    »Tara?«
    Ich nahm ihre Hand, die dünn und heiß in meiner lag.
    »Ja, Kunsang?«
    »Deine Schwester… meine Mutter… Hast du sie jetzt gesehen?«
    Ich schluckte würgend und nickte. Schmerz verzerrte ihr Gesicht.
    Als er verflog, murmelte sie:
    »Chodonla… sie ist immer da. Vergiss es nicht!«
    Ihre Stimme brach. Blutiger Schaum floß in dünnen Fäden aus ihrem Mund, stoßweise, in kleinen Wellen. Ein heftiger Ruck, ein Schauder: Ihr Leben stockte einen Augenblick lang, und löste sich in einem tiefen Seufzer. Sie fiel zurück, wurde schwer in meinen 365
    Armen, die sie hielten. Ich lauschte auf ihren Atem, hörte nichts mehr; ich bettete sie auf ihr Lager zurück. Es war vorbei. Sanft schloss ich ihr die Lider. Und als ich Kunsangs Augen für immer geschlossen hatte, entspannten sich ihre verzerrten Züge: Ein seltsames halbes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Als ich mich aufrichtete, behielt ihr Gesicht dieses Lächeln – und sollte es für immer behalten.
    Kunsang wurde eingeäschert: eine Bestattung, die ursprünglich hohen Lamas vorbehalten war. Eigentlich hatte ein Astrologe die Zeitspanne der Aufbewahrung und den Tag für die Bestattung zu bestimmen. Doch die Umstände erforderten eine einfache Zeremonie. Ich wusch den Leichnam, rieb ihn mit Heilkräutern und verschiedenen Ölen ein, die die Mönche in ihrer Einsiedelei herstellten. Dann hüllte ich Kunsang in weiße Baumwolle, kämmte und flocht ihr Haar. Atan und ich verbrachten eine Nacht bei der Toten, während die Mönche wachten und beteten. In Hunderten von Glas- und Zinngefäßen brannten kleine Flämmchen. Der steinerne Buddha warf seltsam bewegliche Schatten, als ob er lebte und atmete. Die Erschöpfung brachte das weite Feld der Erinnerung in Bewegung, meine Gedanken schwirrten müde umher, bevor sie sich langsam beruhigten. Ich fühlte, wie Kunsangs geläuterter Geist mir half, meine eigene Welt wieder aufzubauen. Sie wollte Frieden, nicht Einsamkeit hinterlassen. Wer ein Gefühl dafür hat, spürt diese Dinge.
    Die Zeremonie fand am nächsten Tag
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