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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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Fremde. Ich dachte, wie viel Zeit wir doch vergeudet hatten, Kunsang und ich, statt uns näherzukommen und zu verstehen.
    Kurz bevor Kunsang starb, öffnete sie ein letztes Mal die Augen.
    Ihr dunkler Blick richtete sich auf mich. Ihre trockenen Lippen öffneten sich, und sie murmelte:
    »Ich fühle keinen Schmerz mehr. Mir ist, als schwebe mein Geist. Alles ist einfach und klar.«
    Ich erwiderte matt ihr Lächeln. Sie sprach mit großer Anstrengung; wie sie es überhaupt noch fertig brachte, die Sätze zu formen, war mir ein Rätsel. Ich hätte ihr sagen müssen: Sei ruhig, schone deine Kräfte! Aber wozu?
    »Ich… habe vielen Leuten ein Geschenk gemacht«, sagte sie leise. »Ich… ich tat das sehr gerne… ihnen zu zeigen, was sie am liebsten hatten. All die Träume… immer wieder… «
    Ich blickte in das blasse Gesicht, das mehr zu wissen schien, als 362
    ich ertragen konnte. Sie rang nach Atem. Das kleine Feuer, das der Novize nie ausgehen ließ, beleuchtete ihre Züge. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. Sie flüsterte:
    »Zu trinken…«
    Rasch gab ich dem Novizen ein Zeichen. Er goss Wasser in ein Gefäß, trat ehrfürchtig gebückt näher. Atan nahm ihm das Gefäß aus den Händen. Er schob seinen Arm unter den Kopf der Sterbenden und flößte ihr mit unendlicher Behutsamkeit die Flüssigkeit Tropfen für Tropfen ein. Als der Becher leer war, schloss Kunsang für einen kurzen Augenblick die Augen. Kurze, stockende Atemzüge drangen aus ihrer Lunge. Dann hob sie die Lider und blickte Atan an.
    »Etwas hat mich dazu gebracht, es zu tun. Für mich war alles nur ein Spiel, weiter nichts.«
    »Du brauchst es mir nicht zu sagen.«
    »Kannst du mir verzeihen?«
    »Was verzeihen?«, fragte er kehlig. »Ich war bloß verwirrt. Das Herz tat mir weh.«
    »Du hättest sagen sollen, hör auf!«
    »Du warst ein Kind. Und es machte dir Spaß.«
    »Es tut mir trotzdem leid…«
    »Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich konnte sie sehen. Es war wirklich so. Ich sah sie in ihrem roten Kleid. Sie kam immer wieder.
    Das war kein Schmerz, das war Glück.«
    »Glück?«, flüsterte sie rau.
    »Wir können nicht in die Vergangenheit zurückfinden. Wir müssen weitergehen in die Zukunft. Aber die Mutter ist immer da, in uns. Sie hat tausend Augen, die uns sehen, und tausend Ohren, die uns hören. Ich danke dir.«
    Sie fuhr leicht zusammen.
    »Wofür?«
    »Dass du sie hergeholt hast.«
    »Ich?«
    »Ich selbst… ich hätte es nie gekonnt.«
    Sie hob den Kopf, mit fiebriger Lebhaftigkeit.
    »Aber ich kann es, Atan! Entsinnst du dich, ganz am Anfang, wie ich malte? Ich… ich hatte keine Ahnung, warum ich manche Dinge malte… ich sah sie einfach! Ich bemühte mich immer… sie so schön wie möglich zu malen… damit andere Menschen sie gut sehen konnten. Und dann plötzlich… da waren diese Dinge keine Farbkleckse mehr, auf dem Papier… sie waren richtig da! Und wenn 363
    ich dazu sang, einfach so: »Shi-li-li« ohne nachzudenken… dann bewegte sich die Welt rückwärts… und drehte sich mit mir um.
    Dann sah ich sie auch, meine Mutter. Obwohl sie schon lange tot war… Ich sah sie ganz deutlich…«
    Mein Atem stockte. Ich beugte mich unwillkürlich vor.
    »Chodonla?«
    Kunsangs glänzende Augen richteten sich auf mich. Ihre Brust hob und senkte sich.
    »Ja, ja. Sie ist da. Auch hier, auch jetzt. Immer! Willst du sie sehen?«
    »Ach, Kunsang… Du kannst doch nicht…«
    Sie warf den Kopf hin und her. Ich sah das Zittern ihrer Halsmuskeln. Mit letzter Kraft, den Blick auf mich gerichtet, begann sie zu summen.
    »Shi-li-li…«
    Ich starrte sie an. Mir war, als ob die Schläge meines Herzens das mühsame, stockende Auf und Ab ihres Atems begleiteten. Sie flüsterte, mit letzter Kraft, eine Melodie, ein Wiegenlied, das vor fünfzig Jahren in Lhasa den Kindern zur Nacht gesungen wurde, in einem Haus, von dem nichts mehr existierte als ein Phantom, an einer Autobushaltestelle vor einem chinesischen Plattenbau.
    »Shi-li-li… «
    Kunsangs Stimme brach, erstickte in einem Röcheln. Doch auf einmal erklang sie wieder, die gleiche Melodie, rein und klar. Es war ein Kind, das sang. Ich merkte es nicht sofort, denn mein Bewusstsein veränderte sich, ich flog mit dem Lied, weiter empor, noch weiter, und die Jahre fielen von mir ab, wirbelten zurück, und Gesichter waren plötzlich da: die heiteren, guten Gesichter meiner Eltern. Ich sah sie als junge, lachende Menschen, wie sie zwei kleine Mädchen in den Armen trugen, unter einer
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