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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt
Autoren: Jon Land
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DIE ERSTE GEWALT THE LOCKS
    Mittwoch, 12. August, 23.00 Uhr
1
    »Ich gehe jetzt, Herr Doktor.«
    Allan Vogelhut, Verwaltungschef von Graylocks Sanatorium für kriminelle Geisteskranke, blickte geistesabwesend von den Papieren auf seinem Schreibtisch auf. »Ja, Miss Dix?«
    »Ich sagte, ich gehe jetzt«, erwiderte seine Sekretärin. »Ich will das letzte Schiff nicht verpassen, bei dem Sturm und so weiter.«
    Erst jetzt bemerkte Vogelhut den Regen, der gegen die Fenster des Büros schlug. Es war, als existierte die Welt jenseits der Mauern der ›Locks‹ gar nicht für ihn. Als erster und bisher einziger Verwaltungschef der Anstalt standen die übelsten und abscheulichsten Verbrecher unter seiner Obhut, die die Gerichte einzig und allein in der Hoffnung hierher geschickt hatten, sie für immer vergessen zu können.
    »Ja«, sagte er. »Da haben Sie wohl recht.«
    »Dann also bis morgen früh.«
    Und Miss Dix war verschwunden.
    Vogelhut betrachtete die Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch und wußte, daß er an diesem Abend nicht von der Bowman Island herunterkommen würde. Für solche Gelegenheiten stand ihm in der Anstalt ein kleines Apartment zur Verfügung, und in letzter Zeit hatte er es immer öfter benutzt. Es wurde zunehmend schwieriger für ihn, ›The Locks‹ auch nur für eine Weile zu verlassen. Manchmal hatte er den Eindruck, genauso ein Gefangener dieses Ortes zu sein wie seine Schutzbefohlenen.
    »Die Zeit«, murmelte er, »die Zeit …«
    Er war spät dran für seine Abendrunde, die er eigentlich für völlig überflüssig hielt, aber trotzdem regelmäßig machte. Vogelhut erhob sich vom Schreibtisch und erhaschte einen Blick auf sein Spiegelbild im regennassen Fenster. Sein graues Haar fiel schlaff herab. Das Gesicht war bleich, fast aschen, das eines Mannes, für den die Sonne eine längst vergessene Erinnerung war. Lag es an seinem Alter, fragte er sich, oder einfach nur an ›The Locks‹ selbst?
    Vogelhut trat auf den Gang und schloß die Bürotür hinter sich ab. Zu dieser Nachtzeit hatte er die Korridore für sich allein, und die Stille beruhigte ihn. Stille bedeutete Routine, und Routine war zur einzigen Sicherheit geworden, in der er Zuflucht finden konnte. Angesichts der späten Stunde würde er die harmloseren Flügel auslassen und sich direkt zu dem Hochsicherheitstrakt begeben, der hier MAX-SEC genannt wurde.
    Aufgrund der Überwachungsgeräte war das MAX-SEC-Wachpersonal über Vogelhuts Ankunft informiert, als er die Monitorzentrale betrat.
    »Guten Abend, Herr Doktor«, sagte einer der Posten, während die beiden anderen weiterhin das Dutzend Bildschirme in den Augen behielten, deren Kameras ständig die Gewölbe absuchten, in denen die USA vierundachtzig Männer und Frauen lebendig begraben hatten.
    Alle Vorgänge wurden vom Computer gesteuert und überwacht. Auf den Monitoren waren abwechselnd Bilder aus insgesamt sieben Zellen zu sehen. Vogelhut beobachtete die Insassen in ihren Zellen öfter über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg und vertiefte sich in ihre Verhaltungsmuster. Dabei kam er sich wie ein Voyeur vor, dem ein Einblick in sowohl faszinierende als auch völlig unbegreifliche Welten gewährt wurde. Alle Zelleninsassen benahmen sich anders. Mindestens drei Gefangene in diesem Trakt schliefen niemals. Nun sah einer von ihnen in die Kamera, als wisse er, daß Vogelhut ihn beobachtete.
    Der Gefangene tippte sich grinsend an die Stirn. Der Verwaltungschef wandte sich zitternd ab. Wie viele Menschen hatten diese Männer und Frauen getötet? Wieviel Schmerz und Leid hatten sie verursacht? Vogelhut versuchte, niemals über solche Fragen nachzudenken, MAX-SEC war für insgesamt hundertvierundvierzig Gefangene erbaut worden, doch die derzeitige Anzahl war die höchste, die der Trakt jemals beherbergt hatte.
    Er war wieder auf den Gang getreten und hatte gerade einen zweiten erreicht, als das Licht einmal aufflackerte und dann erstarb. Der Stromausfall, überlegte Vogelhut, wurde zweifellos von dem Sturm verursacht. Sekunden später sprang das Behelfssystem an und stellte wieder eine gewisse Mindestbeleuchtung her. Vogelhut atmete auf und machte eine Kehrtwendung, um zum MAX-SEC-Trakt zurückzukehren. Ein Stromausfall in ›The Locks‹ war immer ernstzunehmen, und erneut suchte er Zuflucht in der Gewohnheit, um seine flatternden Nerven zu beruhigen. Er wußte, daß in diesem Augenblick bereits zwei Dutzend seiner Leute zum MAX-SEC-Trakt stürmen würden – im Fall eines
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