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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt
Autoren: Jon Land
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gerade wieder zum Mund führen, hielt aber auf halbem Weg inne. »Sagen Sie mir, wie.«
    »Lecken Sie zuerst den Zuckerguß ab«, sagte Kimberlain, als er aufstand und aus der Nische glitt.
    »Sie haben Ihren Kaffee nicht ausgetrunken.«
    »Zuviel Kaffee bereitet mir Magenschmerzen.«
    »Die werden Sie sowieso bekommen. Sehen Sie sich dieses Memo mal an, das mir gestern auf den Schreibtisch geflattert ist«, sagte Talley, zog ein ordentlich gefaltetes Blatt aus ihrer Handtasche und hielt es ihm hin. »Wir haben nicht vor, es an die Presse weiterzugeben.«
    Kimberlain faltete den Zettel auf. Sein Blick versteinerte sich, als er die erste Zeile las:
    Die Flucht von vierundachtzig Gefangenen, darunter Andrew Harrison Leeds, aus dem Hochsicherheitstrakt von Graylocks Sanatorium wird …
    »Wann?« fragte er.
    »Vorgestern nacht.«
    Kimberlain las weiter und blickte dann auf Lauren Talley hinab. »Tiny Tim ist jetzt das kleinste Ihrer Probleme.«
    »Und was ist mit Ihren Sorgen? Leeds gehörte dazu.«
    »Ich habe ihn lediglich gefaßt.«
    »Also ist er Ihr Problem. Und jetzt, wo er draußen ist, müssen Sie ihn noch einmal fassen.«
    Kimberlain machte sich nicht die Mühe, es abzustreiten. »Ich muß mich in ›The Locks‹ umsehen.«
    »Das kostet Sie etwas.«
    »Tiny Tim?«
    Lauren Talley nickte. Kimberlain setzte sich wieder.
    »Ihr Rührei wird kalt, Miss Talley. Essen Sie auf, damit wir uns unterhalten können.«

3
    Das Maschinengewehr nahm knirschend das Gewicht des Munitionsstreifens auf. Dessen Masse ließ den Dreifuß beinahe umkippen. Hedda richtete den Aufbau aus und schob ihn näher an die klaffende Öffnung, die früher ein Fenster gewesen war. Sie blickte die Straße entlang auf die ehemalige heilige Residenz im moslemischen Viertel Beiruts, ganz in der Nähe des Hippodroms und nur fünf Häuserblocks von den ehemaligen Kasernen der US-Marines entfernt, die 1982 bei einem terroristischen Bombenanschlag zerstört worden waren. Ihr Fernglas baumelte an ihrem Hals, doch sie hob es nicht vor die Augen; ihr Verstand funktionierte besser, wenn sie das Bild ohne Feldstecher in sich aufnahm.
    Keiner der palästinensischen Wachtposten, die vor und hinter dem Zaun patrouillierten, bedachte dieses Wohnhaus auch nur mit einem zweiten Blick. Nach allem, was sie wußten, war es im Bürgerkrieg zweimal ausgebombt worden, und selbst die zahlreichen Obdachlosen der Stadt waren klug genug, das Gebäude zu meiden. Dennoch hätten die Terroristen ihre Pflichten ernster nehmen müssen. Hedda nahm an, daß es an einer gewissen überheblichen Selbstsicherheit lag. Die Terroristen hatten bei einer Operation, wie Hedda sie durchführen wollte, noch nie eine abendländische Geisel verloren.
    Aber sie hatten es auch noch nie mit den Caretakers zu tun bekommen.
    Hedda hatte von ihrem Kontrolloffizier, Librarian – dem Bibliothekar –, erfahren, daß der Sohn eines ranghohen Amerikaners im saudiarabischen Ölkonglomerat Aramco von einer palästinensischen Gruppe entführt worden war, die sich für den völligen Rückzug des kapitalistischen amerikanischen Einflusses aus der Region einsetzte. Man hatte weder Lösegeld für den Jungen gefordert noch anderweitige Bedingungen gestellt. Er war schlichtweg ein Symbol und wurde nur am Leben gelassen, damit man Videobänder aufnehmen und vielleicht, falls die Dinge sich zum Schlechteren entwickelten, einen abgetrennten Finger oder ein Ohr an die amerikanische Botschaft schicken konnte. Es war dem Vater des Jungen gelungen, Kontakt mit den richtigen Stellen aufzunehmen, und er hatte sich als bereit und imstande erwiesen, das nicht aushandelbare Honorar zu zahlen. Danach war alles sehr schnell gegangen.
    Hedda wußte nicht, wie die Caretakers das Versteck des Jungen gefunden hatten, und es war ihr auch gleichgültig. Ihre Aufgabe bestand darin, ihn dort herauszuholen und zum Treffpunkt zu bringen. Einzig und allein ihre Aufgabe. Caretakers arbeiteten niemals in Gruppen und nur gelegentlich zu zweit. Zweimal hatte Hedda sich mit Deerslayer zusammengetan; bei ihrer letzten gemeinsamen Aktion hatte der ›Wildtöter‹ ein Auge verloren. Nur Heddas schnelles Eingreifen hatte ihm das Leben gerettet. Sie hatte gehört, daß Deerslayer noch gefährlicher geworden war, nachdem er nun eine schwarze Augenklappe tragen mußte.
    Hedda sah auf die Uhr. Sie hatte in den letzten beiden Tagen beobachtet, daß der Junge immer genau zur gleichen Zeit hinausgebracht wurde, damit er ein bißchen Zeit im
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