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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser
Autoren: Sandra Lüpkes
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Prolog
    Seine Mutter rannte voraus. Er versuchte sie einzuholen, doch die Abdrücke ihrer Schuhe im Sand hatten sich bereits mit Wasser gefüllt und die scharfen Konturen verloren, mit denen sie in den feuchten Boden gedrückt worden waren.
    Seine kleinen Füße versanken in den schmalen Salzseen, die die Mutter hinterließ, er bemühte sich, den Schritten nachzueifern, wollte keine Spuren zwischen den ihren hinterlassen. Doch meist waren seine Beine zu kurz und er verfehlte sein Ziel, stolperte sogar und rieb seine Jeanshose in den harten Sand, sodass sich an den Knien dunkle Flecken in den blauen Stoff sogen.
    Sie waren schon viel zu weit gelaufen. Die roten Dächer hinter der faserigen Mauer aus Dünen waren verschwunden und er musste Acht geben, dass er nicht über irgendein fremdartiges, verwaschenes Stück Treibholz fiel, da man an diesem Ende der Insel nicht jeden Morgen den Spülsaum nach Strandgut absuchte.
    Er schaute der wehenden Gestalt seiner Mutter hinterher oder auf die riesigen Abstände zwischen ihren Fußabdrücken, doch als er nun stehen blieb, weil er einfach nicht mehr konnte, weil sein aufgeregtes Herz den trockenen Hals hinaufschlug, da blickte er zu den wild bewachsenen Hügeln zu seiner Rechten. Und er erschrak.
    Sie waren nicht nur viel zu weit gerannt, sie hatten sich auch von der Dünenkette entfernt, statt parallel zu ihr zu laufen. Zwischen ihnen und dem sicheren Strand breitete sich ein Wassergraben aus, der so breit war wie eine Straße auf dem Festland und in dem das Wasser nicht ruhig und sinnig dahinfloss.Nein, der Graben nahm bereitwillig das rasch herbeieilende Meerwasser in sich auf, um sich noch mehr auszudehnen und an Tiefe zu gewinnen.
    Sie waren auf einer Sandbank gelandet.
    «Gehe nie unachtsam bei auflaufend Wasser an der Meereskante entlang, es könnte sein, dass die Flut dir den Rückweg versperrt», hatte Oma ihm immer als Mahnung mit auf den Weg gegeben, wenn er nach den lästigen Hausaufgaben an den Strand hinunter wollte.
    Ihm lief es kalt den Rücken hinunter. Langsam drehte er sich um und als er ein paar hundert Schritte entfernt den plätschernden Priel erkannte, den er eben noch mühelos hätte überspringen können, der nun aber ein unüberwindbarer Strom geworden war, da schrie er.
    «Mama.»
    Sie hörte sein Rufen nicht, ging weiter in Richtung Osten, wo die Silhouette der Nachbarinsel bereits näher zu sein schien als die letzten Häuser und der breite Wasserturm ihres Dorfes. Dabei hätte sie doch auf ihn aufpassen müssen. Stattdessen lief seine unvernünftige Mutter in ihrem albernen rostroten Umhang rastlos ans Ende ihrer kleinen Welt und schaute nicht einmal zurück, wie es ihm ging. Er wusste, sie rannte sich die Trauer und den Schmerz aus dem Leib, weil sie das erste Mal auf der Insel war, seitdem Oma tot war. Heute Morgen beim Frühstück war sie von einer Sekunde auf die andere in Tränen ausgebrochen, nur weil er gesagt hatte, Omas Tee hätte irgendwie anders geschmeckt.
    Aber er wusste ja auch, dass sie Angst hatte. Angst vor der Zukunft.
    Wenn die Osterferien vorüber waren, würde er mit ihr weggehen. Sie würden das erste Mal zusammenleben wie Mutter undSohn, in einer Wohnung in der Stadt, an demselben Esstisch sitzen, über demselben Waschbecken die Zähne putzen. Von nun an würde
sie
und nicht Oma ihm die Pausenbrote schmieren und ein Pflaster auf die Wunde kleben, wenn er sich geschnitten hatte. Sie war nun keine Sonntagsmutter mehr, die ihren Sohn für besser hielt, als er wirklich war. Sobald sie das erste Mal die Hausaufgaben mit ihm machte, würde sie schnell begreifen, dass er eben überhaupt kein Genie war und die Vier in Mathe tatsächlich verdient hatte.
    Er schaute ihr nach. Sie hätte auf ihn aufpassen müssen.
    Er wünschte für einen kurzen Moment, Oma hätte ihn heute Morgen mit sorgenvollem Gesicht vor dem auflaufenden Wasser gewarnt. Vielleicht wäre er dann nicht so weit gegangen.
    Der Sand unter seinen Füßen brach in sich zusammen, die Flut hatte die Stelle, auf der er eben noch so sicher gestanden hatte, unterspült, wie ein wütendes Tier weggefressen, und in Sekundenschnelle umfasste das eiskalte Seewasser seinen Unterleib. «Mama», schrie er verzweifelt, «Mama.»
    Er konnte sie nicht mehr ausmachen, die feste Sandbank lag einen halben Meter über ihm, er konnte nur hoffen, dass sie ihn gehört hatte und sich endlich, endlich nach ihm umsah.
    Die übermächtige Strömung riss den Sand fort, an dem er sich festzukrallen
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