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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser
Autoren: Sandra Lüpkes
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Sie sich denken können. Ihm liegt das Wohl und die Bildung der Kinder am Herzen wie kaum einem anderen. Er war bereit, sein gesamtes privates Vermögen in ein beispielloses Experiment zu stecken, und das rechne ich ihm hoch an. Er hat schon ganz am Anfang an Liekedeler geglaubt, verstehen Sie?»
    Natürlich verstand ich. Die Idee von Liekedeler war klar und gut, jeder wollte daran glauben und ein paar Leute hatten sich an dieses Projekt oder «Experiment», wie Dr.   Schewe es nannte, gewagt. «In jedem Menschen steckt ein unglaubliches Potenzial an Intelligenz und Talent, das denke ich auch, es muss nur gefunden werden. Und jeder Mensch ist es wert, dass in ihm danach gesucht wird. Ich habe gelesen, dass Liekedeler zum Beispiel ein kleines Segelboot hat, auf dem die Schüler lernen, was Zusammenhalt ist, gleichzeitig verstehen sie aber auch die physikalischen Gesetze, die ein Boot vorantreiben und es im Gleichgewicht halten. Frau Dr.   Schewe, mir gefällt das Lernen durch praktische Anwendung der theoretischen Formeln, weil die neueste Gehirnforschung ja dafür plädiert, dass Emotionen, das Erleben von Erfolg, eine positive Auswirkung auf das Langzeitgedächtnis haben. Dies ist, soweit ich begriffen habe, der Grundgedanke Ihrer Arbeit.»
    Sie nickte erfreut. «Sie haben unsere Sache scheinbar sehr gut begriffen, Frau Leverenz. Das kindliche Gehirn ist noch in der Lage, neue Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen aufzubauen. Dazu muss das Kind aber auch auf vielfältigeWeise gefördert werden, eine Kombination von verschiedenen Lernbereichen verstärkt die Vernetzung der Hirnstruktur. Musikalität und logisches Denken können zum Beispiel in unserer hervorragenden Instrumentalgruppe miteinander kombiniert werden. Wir spielen dort nicht nur klassische und populäre Musik, wir bauen auch teilweise die Instrumente selbst, lassen die Schüler eigene Kompositionen machen, analysieren erfolgreiche Stücke aus allen Musikepochen auf wiederkehrende Merkmale. Musiktheorie wie Noten, Taktmaße und Historie werden bei dem praktischen Unterricht beinahe unbewusst von den Kindern aufgenommen. Unsere polnische Schülerin Jolanda Pietrowska hat beispielsweise in nur anderthalb Jahren fast nebenbei das Klavierspielen erlernt.»
    Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch, woraufhin sie mir ein eingerahmtes Foto an der Wand zeigte, auf dem ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen stolz und gerade vor einem Klavier saß. Das war wirklich ein beachtlicher Erfolg.
    «Können Sie sich vorstellen, wie glücklich es mich macht, die Früchte dieser Arbeit so langsam reifen zu sehen? Tatsächlich zeigen unsere Schüler bemerkenswerte Fortschritte, nicht nur in der Schule, sondern auch im gewöhnlichen Alltag, mit den Familien und Freunden kommen sie besser zurecht.» Sie schaute durch ihre feine, silberne Brille erst mich und dann meine Unterlagen an. «Sie haben keine Familie?»
    «Nicht direkt. Mein Vater lebt zwar mit mir in einer Wohnung, doch als Journalist ist er ständig unterwegs. Meine Mutter ist früh verstorben und Geschwister habe ich keine.»
    «Sie sind mit dem Fahrrad zum Vorstellungstermin gekommen, ich habe es durch das Fenster beobachtet. Haben Sie kein Auto?»
    «Ich habe keinen Führerschein.»
    Dr.   Schewe lachte hell und klar. «Sehr sympathisch, sehr sympathisch! Wenn ich an das typische Wind und Wetter in Ostfriesland denke, an einen zünftigen Sturm aus Nordwest zum Beispiel, da würden mich keine zehn Pferde auf ein Fahrrad bringen. Ich liebe mein trockenes, warmes Auto! Aber ich bewundere Sie für Ihr Durchhaltevermögen, liebe Frau Leverenz.»
    Ich nickte nur. Natürlich wäre es toll, wenn die Gründe für meine Abstinenz etwas mit Durchhaltevermögen zu tun hätten. Hatten sie aber nicht. Ich hatte nie genug Geld für einen Führerschein, geschweige denn für ein Auto. Ich liebte mein schwarzes Hollandrad, es hatte über dreißig Jahre auf seinem Buckel und die Einzige, die außer mir je auf seinem Ledersattel gesessen hatte, war meine Mutter.
    «Falls Sie die Stelle bekommen, könnten Sie auch gern bei uns einziehen», sagte Dr.   Schewe in einem so selbstverständlichen Plauderton, dass ich es fast überhört hätte. «Wir renovieren gerade das Dachgeschoss, dort wird in ein paar Wochen eine Zweizimmerwohnung frei, nichts Großes, versteht sich, doch für eine Person wirklich ausreichend, meine ich.»
    Ich rückte mich auf dem Stuhl zurecht und starrte aus dem Fenster hinter ihrem Schreibtisch.
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