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Nur zu deinem Schutz (German Edition)

Nur zu deinem Schutz (German Edition)

Titel: Nur zu deinem Schutz (German Edition)
Autoren: Harlan Coben
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1
    ICH WAR GERADE AUF DEM WEG ZU MEINER NEUEN HIGHSCHOOL und zerfloss in Selbstmitleid – mein Vater war tot, meine Mutter machte einen Entzug und meine Freundin war verschwunden –, als ich die Hexe zum ersten Mal sah.
    Natürlich hatte ich die Gerüchte gehört, die man sich über sie erzählte. Angeblich lebte sie ganz allein in dem heruntergekommenen Haus Ecke Hobart Gap Road und Pine Street, das jeder hier aus der Gegend kannte. Jetzt stand ich direkt davor. Der gelbe Anstrich pellte sich vom Putz wie Haut nach einem Sonnenbrand. Der geteerte Zugangsweg war rissig und in dem ungepflegten Vorgarten wucherte kniehoch der Löwenzahn.
    Es hieß, die Hexe sei hundert Jahre alt und würde nur nachts rauskommen. Und wenn ein Kind nicht vor Einbruch der Dunkelheit vom Spielen oder vom Baseballtraining zu Hause war – und so mutig, im Dunkeln heimzulaufen, oder verrückt genug, die Abkürzung durch ihren Garten zu nehmen –, dann holte sie es sich.
    Was sie dann mit ihnen machte, hatte mir niemand sagen können. Kinder waren in der Stadt jedenfalls seit Jahren keine verschwunden. Bei Jugendlichen, wie zum Beispiel meiner Freundin Ashley, sah die Sache schon anders aus. Die konnten am einen Tag noch da sein, deine Hand halten, dir tief in die Augen schauen und dein Herz dazu bringen, Trommelwirbel zu schlagen – und am nächsten waren sie verschwunden. Aber kleine Kinder? Nö. Die hatten nichts zu befürchten, noch nicht einmal von der Hexe.
    Ich wollte gerade auf die andere Straßenseite wechseln, weil selbst mir als frischgebackenem Zehntklässler bei der Vorstellung mulmig wurde, zu dicht an dem unheimlichen Haus vorbeizugehen, als sich knarzend die Eingangstür öffnete.
    Ich erstarrte.
    Einen Moment lang passierte gar nichts. Die Tür stand sperrangelweit offen, aber es war niemand zu sehen. Ich blieb stehen und wartete. Gut möglich, dass ich blinzelte, aber beschwören kann ich es nicht.
    Jedenfalls stand plötzlich die Hexe da.
    Sie hätte tatsächlich hundert Jahre alt sein können. Oder sogar zweihundert. Ihre hüftlangen silbergrauen Haare wehten im Wind und verbargen ihr Gesicht wie ein Schleier. Sie trug ein weißes Kleid, das an ein Hochzeitskleid aus einem alten Horrorfilm oder Heavy-Metal-Video erinnerte, und ihr Rücken war gekrümmt wie ein Fragezeichen.
    Die Hexe hob langsam ihre rechte Hand, die so blass war, dass sich überdeutlich die blauen Adern auf dem Handrücken abzeichneten, und zeigte mit knochigem, zitterndem Zeigefinger in meine Richtung. Ich sagte nichts. Ihr Finger verharrte auf mir, bis sie sich sicher war, dass ich sie ansah. Dann breitete sich auf ihrem von Falten zerfurchten Gesicht ein Lächeln aus, bei dem es mir eiskalt den Rücken hinunterlief.
    »Mickey?«
    Ich hatte keine Ahnung, woher die Hexe meinen Namen wusste.
    »Dein Vater ist nicht tot«, sagte sie.
    Ihre Worte durchfuhren mich wie ein Stromstoß und ließen mich einen Schritt zurückweichen.
    »Er lebt.«
    Ich stand immer noch wie vom Donner gerührt da, als sie wieder in ihrem abbruchreifen Hexenhaus verschwand, aber ich wusste, dass das, was sie gesagt hatte, nicht stimmte.
    Ich hatte nämlich mit eigenen Augen gesehen, wie mein Vater starb.
    Okay, das war wirklich schräg.
    Ich blieb vor dem Haus der Hexe stehen und wartete ab, ob sie vielleicht noch mal herauskam. Fehlanzeige. Nach einiger Zeit ging ich den Weg zur Tür hinauf und suchte nach einem Klingelknopf. Es gab keinen. Ich hämmerte gegen die Tür. Sie erbebte unter der unsanften Behandlung, und das Holz war so rau, dass es wie Schmirgelpapier über meine Fingerknöchel schrappte. Farbsplitter rieselten zu Boden, als hätte die Tür ziemlich übel Schuppen.
    Aber die Hexe ließ sich nicht blicken.
    Tja, und was jetzt? Die Tür eintreten und die komische alte Frau in dem merkwürdigen weißen Kleid dazu auffordern, ihr wirres Gerede zu erklären? Vielleicht war sie ja nach oben ins Bad gegangen, hatte ihr weißes Kleid ausgezogen und stand gerade unter der Dusche …
    Igitt.
    Zeit, abzuhauen. Ich musste sowieso weiter, wenn ich den ersten Gong nicht verpassen wollte. Mein Klassenlehrer Mr Hill nahm es mit Pünktlichkeit extrem genau. Außerdem hoffte ich immer noch, dass Ashley heute auftauchen würde. Ich meine, konnte doch sein, dass sie genauso plötzlich wieder da war, wie sie sich in Luft aufgelöst hatte.
    Ich hatte Ashley vor drei Wochen beim Einführungstag der Highschool kennengelernt, der sowohl für komplette Neulinge wie Ashley und mich
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