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Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)

Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)

Titel: Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)
Autoren: Carmen Korn
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Tod eines Träumers
    War es je so warm gewesen im Oktober? Der Hafen lag im weichen Licht einer tiefstehenden Sonne, als die Hochbahn in die Station Baumwall einfuhr. Vier Uhr nachmittags.
    Vera öffnete den vierten Knopf von oben. Einen zu viel? Der Junge, der ihr gegenüber saß, schien nicht anfällig für die Reize der Frauen in aufgeknöpften zimtfarbenen Kleidern.
    Sein Blick streifte sie. Was sah er? Eine nicht mehr ganz junge Vera mit lose hochgesteckten Haaren. Messingblond. Die so tat, als nähme sie nur das Bild da draußen wahr, den Hafen, das Herbstlicht, und die dabei doch die ganze Zeit den Jungen betrachtete.
    Er blinzelte. Mit schwarzgetuschten Wimpern blinzelte er. Sein Haar war heller als ihres. Viel heller. Lange Haare, die ihm auf die Schultern fielen. Engelhaar. Der Bart war Tage alt. Lederjacke. Jeans. Die Daumen in den Schlaufen der Hose. Einer, der den Mann markierte und die Wimpern tuschte und ein zartes Rosa auf den Nägeln trug.
    Er schlug die Augen nieder, als Vera den Blickkontakt nahezu erzwang.
    »Sie gefallen mir«, sagte Vera.
    Was sollte das? War ihr langweilig zu Hause? Fuhr sie darum mit der Bahn, um einen afrikanischen Gemüseladen im tiefsten Sankt Pauli aufzusuchen, statt ein Taxi zu nehmen, wie sie es sonst tat? Weil sie Kontakte suchte?
    Gefiel ihr an diesem Jungen, dass er nicht wusste, ob er Mann oder Frau sein wollte? Später würde sie sagen, ihr hätten seine Augen gefallen. Weil sie von einer kindlichen Traurigkeit gewesen seien. Da war es für das eine und andere schon zu spät.
    Doch in diesem Augenblick saß sie mit einer Tüte voller Okraschoten in der Hochbahn, und im Hintergrund waren die Landungsbrücken zu sehen. Allerdings nur für Vera, die entgegen der Fahrtrichtung saß.
    Das Gesicht des Jungen war noch gerötet vor Verlegenheit, als er zwei Stationen später ausstieg. Er sah zu Vera zurück und strebte dann eilig dem Ausgang zu.
    Nein. Vera hatte nicht geglaubt, ihm nochmal zu begegnen. Sie sah zu Nick, ob er ihre Verwunderung bemerkte. Doch das Lokal war zu dunkel, um irgendwas zu bemerken, das außerhalb der Bühne geschah.
    »Ist ziemlich schräg, das Ganze«, sagte Nick leicht gereizt. Dabei hatte er sie hergeschleppt. Nick. Ihr Freund in allen Lebenslagen. Von Herzen geliebt. Doch nie der Mann ihres Herzens. Das kannte er. Das konnte nicht der Grund seiner schlechten Laune sein.
    Der Junge stand vorne in einem nachtschwarzen Fähnchen mit silbernen Sternen und sang. Das helle Engelhaar fiel ihm weich auf die Schultern, sein Gesicht war glatt rasiert und ließ doch schon wieder Stoppeln ahnen. Er sah dünn aus in dem Fähnchen. Nicht einmal der Versuch von Weiblichkeit. Unwattiert. Ein dünner Jungenkörper.
    Kleine Lieder aus den Zwanziger Jahren, die er sang. Kaum schlecht und kaum gut. Vera kannte die Lieder. Eines hatte ihr längst verstorbener Vater Gustav geschrieben. Leider das bravste von denen, die hier vorgetragen wurden.
    »Dir scheint das zu gefallen«, sagte Nick, »du grinst.«
    Dass er das sah in der Dunkelheit.
    »Überall ist Wunderland«, sang der Junge, »überall ist Leben.«
    Vera setzte sich auf und streckte den Rücken. Das war Ringelnatz. Den hatte sie nicht erwartet.
    »Der Whisky Soda in diesem Laden ist so fadenscheinig wie der Stoff des Fähnchens, das er trägt«, sagte Nick. Sein Kinn wies zur Bühne. Doch dann nahm er noch einen Schluck.
    »Bei meiner Tante im Strumpfenband«, sang der Junge, »wie irgendwo daneben.«
    »Das ist gut«, sagte Vera, »das kann der Aufmacher deiner Geschichte werden.«
    Nick schob den Fotokoffer noch tiefer unter den kleinen Tisch. Mit der Spitze des Schuhes schob er, als habe er Berührungsängste bei diesem Koffer. Weit genug war es mit ihm gekommen. Heruntergekommen. Hamburg bei Nacht. Das fotografierte er für die Beilagen der Tageszeitungen jenseits der Mainlinie. Die wollten das hier sicher nicht sehen. Lieber pralle Frauen in der Davidstraße, die an den Hauswänden lehnten und deren Lippen Hallo Süßer formten.
    Das alte Klischee von Sankt Pauli.
    »Nachher gehen wir eine Bratwurst essen«, sagte Vera.
    »Du hast Sehnsucht nach schlichter deutscher Küche.«
    »Afrikanisch ist auch schön, und Billie kocht gut.«
    »Vor allem hast du Sehnsucht nach Anni.«
    Vera tat einen tiefen Seufzer, bevor sie ja sagte. »Ich hoffe, sie kommt bald aus den Tiefen Lettlands zurück.«
    »Nur noch vier Tage«, sagte Nick.
    Der Junge auf der Bühne sah aus, als ob ihm kalt sei.
    Vera hätte ihn gern
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