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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin
Autoren: Federica de Cesco
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über die Schultern geschnürt, den sie mit einer Hand auf der Hüfte stützte. Plötzlich bewegte sich der Beutel; ein Hundekopf mit zottigen Ohren wurde sichtbar.
    »Oh!«, entfuhr es mir. »Shila!«
    Longselas Augen strahlten.
    »Ja. Er begleitet mich immer.«
    Ihr Lächeln verschwand; sie richtete den Blick auf Kunsang, die sich wachsbleich an meinen Arm klammerte. Das Fieber war gestiegen; ich spürte ihre Hitze durch die Kleider. Longsela sah sie mit großen, ernsten Augen an.
    »Du bist krank«, sagte sie.
    »Ja, sehr.«
    Kunsang sprach zu ihr wie zu einer Erwachsenen.
    »Wirst du wieder singen können?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Das wäre sehr schade, wenn du es nicht mehr könntest.«
    »Ich bin verletzt worden.« Kunsang sprach leise und mühevoll.
    »Eine Kugel hat mich getroffen, da… an der Brust. Ich kann schlecht 349
    atmen.«
    Longsela antwortete nicht sogleich. Sie fuhr fort, Kunsang nachdenklich und sehr genau zu „betrachten. Es lag viel Freundschaft in ihrem Blick. Aber es war eine Freundschaft besonderer Art, unbefangen, ernst und voller Mitgefühl.
    »Wenn du nicht mehr singen kannst«, sagte sie, »werde ich sehr traurig sein.«
    »Das ist nicht nötig«, sagte Kunsang. »Wenn ich es nicht mehr kann… dann wirst du singen.«
    Longsela zog zweifelnd die schmalen Schultern hoch.
    »Aber nicht so gut wie du.«
    Kunsang lächelte. Es war bestürzend, die Trauer und das Glück in ihrem Lächeln zu sehen.
    »Doch…«, sagte sie. »Viel besser als ich…«
    Langsam stapften wir die Böschung hinab, halfen Kunsang über die Uferfelsen. Ihr stoßweiser, rasselnder Atem machte mir Angst.
    Im Schatten der alten Brückenpfeiler schlug uns die warme Ausdünstung der Pferde entgegen. Die leisen und undeutlichen Eindrücke für Auge und Ohr, die ich hier unten wahrnahm – das leise Klirren von Metall, das dumpfe Stampfen der Hufe, das trübe Glitzern eines Gewehrlaufes –, deuteten darauf hin, dass hier eine größere Gruppe versammelt war. Inzwischen hatten sich meine Augen an die tiefere Dunkelheit gewöhnt, und ich erblickte eine Anzahl Nomaden, in Fellmäntel gehüllt, die bei ihren Pferden warteten. Als Chokra halblaut ein paar Worte sprach, kam Bewegung in die Gruppe. Einige Gestalten, die am Boden kauerten, richteten sich schwerfällig auf. Ein fahler Lichtschein fiel auf ihre roten Gewänder, ich sah, dass es sich um Mönche handelte. Manche konnten sich kaum aufrecht halten, ein älterer Mann hatte den Kopf mit einem blutgetränkten Verband umwickelt. Eine Novizin, kaum älter als Kunsang, wurde behutsam auf ein Maultier gehoben. Ein Polizist hatte ihr mit einem elektrischen Schlagstock das Knie zerschmettert. Alle hier Versammelten hatten an der Demonstration teilgenommen und waren in großer Gefahr. Plötzlich entdeckte ich Dorje, der, von zwei Männern gestützt, zu den Reittieren humpelte.
    Ich trat schnell zu ihm. Dorje schien um Jahre gealtert. Sein volles Gesicht war merkwürdig eingefallen.
    »Was ist mit deinem Fuß?«, fragte ich.
    Zuerst erkannte er mich nicht; dann verzog er schmerzvoll die Lippen.
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    »Es tut mir Leid, Doktorin. Wir hatten vorher nicht beschlossen, die Fahne zu zeigen. Das war allein meine Entscheidung. Und es ist dadurch nur schlimmer geworden.«
    »Hast du etwas anderes erwartet?«
    »Nein. Und ich fühle große Trauer, weil Kunga Taring für mich gestorben ist. Mein Herz blutet für ihn.«
    »Er hatte diese verrückte Idee«, sagte ich knapp. »Lass mal deinen Fuß sehen.«
    Ich schlug behutsam den dürftigen Verband auseinander. Unter der Gaze war nur wenig eingetrocknetes Blut sichtbar. Die Kugel hatte die Knochen zersplittert und den Fuß durchschlagen, ich sah es an der Sohle – ein kleines, schwarzes Loch.
    »Kann ich wieder Motorrad fahren?«, fragte der Novize angstvoll.
    »Im Drapchi-Gefängnis gewiss nicht. Die Chinesen haben jede Menge Aufnahmen von dir. Du bist jetzt so bekannt wie Marilyn Monroe.«
    In seinem Ausdruck und in seiner Stimme zeigten sich Panik.
    »Meine Mutter will, dass ich Tibet verlasse und zu Seiner Heiligkeit nach Indien gehe.«
    »Du solltest auf sie hören. Und den Kampf dort fortsetzen, wo er etwas bringt.«
    Eine Hand streifte meine Schulter; ich sah Chokra dicht hinter mir.
    »Steigen Sie auf«, sagte er leise. »Wir müssen los!«
    »Wo ist Atan?«
    »Er kennt den Weg.«
    Für einen Atemzug begegneten sich unsere Blicke, dann wandte er sich ab. Mehr wollte er nicht sagen. Ich hätte gerne mehr Greifbares erfahren, aber
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