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Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Titel: Die Tage des Regenbogens (German Edition)
Autoren: Antonio Skármeta
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Santiago zurückfahren. Mein Vater sucht mich sicher schon; wenn ich nach Hause komme, bringt er mich um. Ich habe ihm eine Nachricht an sein Kopfkissen gesteckt.«
    Im selben Moment fährt ganz in der Nähe eine Polizeisirene vorbei.
    »Da ist er schon«, sagt sie und grinst.
    »Wie lautet denn die Nachricht?«
    »Leider wird er sie sofort verstehen. Drei Wörter: Jungfräulichkeit, Valparaíso, Freiheit.«
    Sie spannt ihre Lippen zu einem entwaffnenden Lächeln. Mein Gott, wie sehr ich sie liebe! Und schon wieder erwacht mein Begehren!
    »Gefalle ich dir?«
    Ich schüttle den Kopf.
    »Nicht ein bisschen?«
    Ich nicke. Nicht ein bisschen. Ich verziehe verächtlich den Mund.
    »Findest du mich hässlich?«
    Ich nicke eifrig. Ich finde sie pott-häss-lich.
    Patricia Bettini zieht den Vorhang ganz zur Seite. Sie zeigt Valparaíso ihre Blöße und singt aus voller Brust eine Canzonetta:
»E che m’importa a me
se non sono bella
se ho un amante mio
que fa il pittore
que mi dipingerà
come una stella
e che m’importa a me
se non sono bella.«
    (Was kümmert es mich, / dass ich nicht schön bin, / wenn mein Geliebter / sich als Maler verdingt / und mich malt / wie einen Stern, / was kümmert es mich, / dass ich nicht schön bin.)
    »Lass uns zurückfahren nach Santiago«, sage ich zu ihr.
    »Hast du auf einmal Angst?«
    »Ein bisschen. Ich glaube zwar nicht, dass Don Adrián dich umbringt, denn er ist Italiener und sentimental, und so eine Gräueltat würde er nicht übers Herz bringen, aber bei mir hat er sicher weniger Skrupel. Von allen Leuten, die ich kenne, bin ich derzeit sicher Kandidat Nummer eins auf seiner Todesliste.«
    Sie streckt ihre Arme zu einem großen Gähnen, gefolgt von einem tiefen Seufzer. Anschließend hebt sie mahnend den Zeigefinger wie eine Lehrerin aus der Provinz.
    »Also ich glaube, dass wir alle ins Meer zurückkehren. Wie Anaximandros.«
    Es macht mir nichts aus, dass der Cuba Libre lauwarm ist. Ich trinke ihn in einem Zug.
    »Das ›Nein‹ hat uns allen den Kopf verdreht«, sage ich, während ich das Fenster schließe und einen letzten sehnsüchtigen Blick aufs Meer werfe. »… und wie viel Meer / bricht hervor jeden Augenblick / aus sich selber, o ja, sagt es, o ja, / o nein, o nein, o nein, o ja, sagt es im Blauen, / im Schaum, im Wogenritt, / o nein, sagt es, o nein.«
    »Ist das von Neruda?«
    »Von dem großen Neruda. Oder wie dein Papa sagen würde, fucking Neruda.«

VIERUNDVIERZIG
    S eñor Santos hat seinen Sohn Nico noch nie mit Krawatte gesehen. Bevor sie die Wohnung verlassen, um zusammen zur Abschlussfeier zu gehen, vergewissert er sich, dass er die Schachtel Zigaretten eingesteckt hat und das metallene Feuerzeug, das schon so viel mitgemacht hat und das er jeden Samstag bei einem Schlüsseldienst und Tabakladen am Paseo Ahumada nachfüllen lässt.
    Ungläubig befühlt er den Knoten der grünen Krawatte mit den blauen Punkten, die Nico sich von seinem Freund Che geliehen hat.
    Die Feier findet erst am Nachmittag statt, dennoch machen Vater und Sohn alles wie jeden Morgen. Sie gehen aus der Wohnung, und sobald sie aus dem Aufzug gestiegen sind, steckt sich der Philosophielehrer seine Zigarette an, nimmt Nico am Arm und raucht den kurzen Weg bis vors Schultor des Instituto Nacional.
    Ihren täglichen Weg gehen sie an diesem besonderen Tag noch einmal freudig und bewusst: Nico Santos hat das Gymnasium mit einem mehr als annehmbaren Notendurchschnitt abgeschlossen.
    Er hat die Wirren der Diktatur überlebt, er hat brav den Mund gehalten, sich an die Anweisungen seines Vaters gehalten. Nur einmal hat er die Stimme erhoben. Doch auch in diesem Fall war er so klug gewesen, es auf Englisch zu tun: »To be or not to be.« Señor Santos dankt seiner verstorbenen Ehefrau, dass ihr Sohn besonnen geblieben ist. Alles andere hätte er nicht überlebt.
    Mit einer ausladenden Armbewegung, die Nico an die Theatralik von Señor Paredes erinnert, wirft er die Zigarettenkippe auf den Gehweg und beugt sich zu ihm mit den Worten, Seine Durchlaucht möge die Reste mit seiner Schuhsohle zu Pulver zerreiben.
    Nico Santos gehorcht ihm gern. Diese unsinnige kleine Zeremonie erfüllt ihn mit kindlicher Freude. Und wieder wird ihm klar: »Nein« hat gewonnen.
    Sein Vater lebt. Wenn er eines Tages stirbt, dann an dem verfluchten schwarzen Tabak und nicht in einem klammen Verlies.
    Außerdem hat er seinen Urknall erlebt. Und seine Liebe zu Patricia Bettini ist fortan der einzige Sinn des Universums.
    Sie
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