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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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{9} Prolog
Die Ameisen von Prag
    Die Mitte Europas ist eine bewaldete, vom Klima nicht sonderlich begünstigte, den Weltmeeren abgewandte Region ohne nennenswerte Bodenschätze oder sonstige natürliche Reichtümer. Mehrmals entvölkert durch Kriege und Seuchen, über Jahrhunderte zersplittert in politisch bedeutungslose Parzellen: ein armes, ein leeres Zentrum.
    Selten und immer nur für kurze Frist reichte das Kraftfeld der Macht über die eigenen Grenzen hinaus. Über die Verteilung des Globus, über neue, rationellere Formen der Ökonomie und der sozialen Herrschaft wurde andernorts entschieden, von jeher schon. Dennoch gelang es den Bewohnern dieser Region, innerhalb weniger Generationen einen – gemessen an der Skala der Weltökonomie – weit überdurchschnittlichen Reichtum anzuhäufen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert, nach einer Phase hektischer Industrialisierung, waren das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn wohlhabende Staaten mit überdimensionierten Armeen, deren Selbstbewusstsein sich lärmend manifestierte. Es waren Parvenus, die lange nicht begriffen, dass ein so rascher Aufschwung die Weltgewichte verschieben und einen politischen Preis fordern würde.
    Plötzlich sah man sich umzingelt, bedroht von begehrlichen und feindseligen Nachbarn. Zu spät erkannten die ›maßgeblichen Kreise‹ Deutschlands und Österreichs, dass ältere, etabliertere Großmächte ihren Vorsprung an diplomatischem Geschick durchaus nutzten und keineswegs bereit waren, still beiseite zu rücken. Womöglich hatten sie sich längst darauf verständigt, das aufstrebende Zentrum gemeinsam zu besetzen und Beute zu machen – ein Verdacht, für den sich {10} immer neue Belege fanden. Im Osten Russland, ein unberechenbarer Koloss, bereit, Abermillionen Sklaven in einen Eroberungskrieg zu schicken. Im Westen das neiderfüllte Frankreich und die britischen Geschäftemacher, die von den Werten der Zivilisation sprachen und dabei an ihre Rendite dachten. Im Süden schließlich das opportunistische Italien, ein ehrgeiziger Satellitenstaat, der sich trotz aller Bündnisversprechen vorhersehbar auf die Seite der Überzahl schlagen würde. Der Kreis war nahezu geschlossen, es war eine Strangulierung, der am 1.August 1914 endlich Einhalt geboten wurde. So jedenfalls stand es in der Zeitung. Und innerhalb weniger Tage gewöhnten sich sämtliche Bewohner des Zentrums an einen neuen, interessant klingenden Begriff: Weltkrieg .

    Dr.Franz Kafka, ein 32-jähriger, unverheirateter jüdischer Beamter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, hatte ein Jahr später den Krieg noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Ein großgewachsener, schlanker, beinahe schlaksiger Mann, seinem jugendlichen Aussehen zum Trotz überaus nervös, geplagt von Kopfschmerzen und schlechtem Schlaf, aber durchaus militärtauglich; bereits im Juni 1915 bescheinigte man ihm nach kurzer Inspektion seines Körpers, dass er voll verwendungsfähig sei. Doch die Versicherungsbehörde – in Wahrheit wohl seine Vorgesetzten Pfohl und Marschner, die ihm freundlich gesinnt waren – reklamierte ihn als unentbehrliche juristische Fachkraft, und die Militärverwaltung gab diesem Antrag statt: Pro forma trug sie Kafka in die Stammrolle irgendeiner Ersatzkompanie ein und teilte gleichzeitig mit, der Betreffende sei »enthoben auf unbestimmte Zeit«.
    Unlängst – der Krieg war noch jung, wenngleich die patriotische Erregung sich bereits verflüchtigt hatte – unlängst hatte Dr.Kafka eine kurze Reise nach Ungarn unternommen, die ihn bis ins Aufmarschgebiet der Karpatenfront führte. Zu sehen gab es dort Offiziere, reichsdeutsche Uniformen, Feldgeistliche, Rotkreuzschwestern, Lazarettzüge, vorschriftsmäßig verpackte Kanonen und vor allem Flüchtlinge, ganze Trecks abgerissener Flüchtlinge aus Polen und Galizien, die den vorrückenden Russen noch so eben entkommen waren und nun dem Besucher entgegenströmten. Er beobachtete die Vorbereitungen ungeheuerlicher Ereignisse, und er sah deren Folgen. Wo aber war das Eigentliche, der große Kampf, die große Befreiung? {11} Im Kino, in der Wochenschau sah das alles ein wenig anders aus, weniger elend vor allem, weniger profan.
    Kafka war keineswegs allein mit diesen Zweifeln. Das erregende, abenteuerliche Moment des Krieges, der Umgang mit neuester Technik, die Kameradschaft, die siegreiche Bewährung – all dies kannten die Leute zu Hause nur aus der Zeitung und von den wenigen bewegten Bildern, die stumm vor ihren Augen
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