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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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nannte es ›Kriegsanleihe‹: Der Bürger lieh seinem Staat Geld, damit dieser den Krieg fortsetzen und Beute machen könne, und von diesem Nettogewinn würde dann ein gewisser Anteil unter den Millionen von Gläubigern verteilt. Jeder ein Kriegsgewinner: Aus dieser Perspektive nahm sich die Transaktion wesentlich freundlicher aus. Und da niemand sich vorzustellen vermochte, dass es am Zahltag womöglich gar keinen Schuldner mehr {15} geben würde, waren die Spenden schon zweimal reichlich geflossen. Der Erfolg der jüngsten, ›3. österreichisch-ungarischen Kriegsanleihe‹ übertraf allerdings noch die optimistischsten Vorhersagen: Mehr als 5 Milliarden Kronen wurden eingetauscht gegen Anteilscheine, auf denen, eingerahmt von Doppeladler, Jugendstilornamenten, Stempeln und höchstamtlichen Unterschriften, das Blaue vom Himmel versprochen und bis zum Jahr 1930 eisern garantiert wurde.
    Langfristige, hohe Zinsen – der Gedanke elektrisierte auch Kafka, wenn er an seine Berlin-Pläne dachte. Zweifel an der Seriosität des Angebots hatte er ebenso wenig wie seine Bürokollegen: Schließlich war es sogar für die Behörde selbst, die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, ein unumstrittener patriotischer Akt gewesen, einen beträchtlichen Teil ihrer kostbaren Reserven – 6 Millionen Kronen bisher – in Kriegsanleihen anzulegen. Dennoch hatte Kafka lange gezögert, im Bewusstsein dessen, wie viel von seiner Entscheidung abhing. Flucht aus dem Beruf, aus der Familie, aus Prag – wollte er diesen Traum je verwirklichen, so setzte das zwingend voraus, dass die beiden Jahresgehälter, die er mittlerweile erspart hatte, etwa 6000 Kronen, im entscheidenden Moment verfügbar waren. Die Zinsen hingegen bedeuteten vielleicht eines Tages das Zubrot, mit dem allein er in der Lage war, eine Familie zu ernähren.
    Kafka machte sich auf den Weg zur Anmeldestelle. Es war Freitag, der 5.November 1915; die Zeit drängte, denn morgen Mittag würde der Schalter geschlossen, und die Chance war vergeben. »Jeder überlege sich doch einmal«, hatte er soeben im Prager Tagblatt gelesen, »welche Wertobjekte er früher wählen mußte, um einen so hohen Ertrag zu erzielen. Nützet also die letzten Stunden, die noch für die Anmeldung zur Zeichnung zur Verfügung stehen, ordentlich aus.« Das klang vernünftig, aber wie viel sollte man einsetzen, wie viel nur? Kafka blieb vor dem Büro stehen, machte kehrt, schlug mit langen Schritten den Weg nach Hause ein, kehrte erneut um, lief in höchster Erregung zur Anmeldestelle zurück und überwand sich auch diesmal nicht, einzutreten. Wiederum nach Hause, der Nachmittag war vertan – jetzt blieb nur noch, die Mutter zu beauftragen, denn am Samstagmorgen hatte Kafka Dienst und konnte nicht in der Stadt umherlaufen. 1000 Kronen sollte sie anlegen, in seinem Namen. Nein, vielleicht war das allzu ängstlich, also doch 2000 Kronen.
    Am Nachmittag des folgenden Tages – sein Erspartes war mittlerweile {16} in den besten Händen [2]   – entschloss sich Kafka, endlich den Prager Schützengraben auf der Kaiserinsel zu besichtigen. Warum gerade heute? Ahnte er einen Zusammenhang? Fühlte er eine Verantwortung, jetzt, da er zum ersten Mal auf eigene Rechnung am Krieg beteiligt war? Wir wissen es nicht, und der eine sonderbare Satz, den er über dieses Erlebnis notierte, verrät nichts darüber: »Anblick der Ameisenbewegung des Publikums vor dem Schützengraben und in ihm . « Eine Vertiefung im Erdboden und darin viele aneinandergedrängte Lebewesen, ja, das war eigentlich schon alles, was man zu sehen bekam.
    Auch Kafka reihte sich ein und wurde Teil einer großen, wimmelnden Bewegung. Dann fuhr er zurück in die Stadt und suchte die Familie eines Jugendfreundes auf, mit dem er einst – es war schon länger als zehn Jahre her – beinahe innige Briefe gewechselt hatte. Oskar Pollak hieß er, vom Krieg war er von Anbeginn überzeugt und begeistert gewesen, und vor fünf Monaten war er als Fähnrich am Isonzo getötet worden. Längst hätte Kafka kondolieren sollen. Er tat es erst heute, auf dem Weg vom Schützengraben nach Hause, beinahe zu spät schon, wie alles.

{17} Selbstverlassenheit
Eigenartig, welches Gefühl der Einsamkeit
im Misserfolg liegt.
Karel Čapek, DER METEOR
»Nicht so schreiben Felice. Du hast Unrecht. Es sind Missverständnisse zwischen uns, deren Lösung allerdings ich bestimmt erwarte, wenn auch nicht in Briefen. Ich bin nicht anders geworden (leider), die Wage, deren
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