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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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Chiffren und Kürzeln errichtet ist, ein geistiges Stenogramm, das vielfach Besprochenes, vielfach Wiederholtes beschwört, ohne der Leserin einen einzigen Anhaltspunkt dafür zu bieten, ob sie bei der Dechiffrierung das Richtige erraten hat.
    »Es sind Missverständnisse zwischen uns«, schreibt Kafka; doch welche ? Die inneren Gewichte haben sich ein wenig verschoben; welche Gewichte und wohin verschoben? » … ich glaube, mehr über uns beide zu wissen«, aber was nur?, »und habe ein vorläufiges Ziel«; ja, welches denn? Alle »hindernden Überlegungen und Sorgen« sind »unerträglich« und sogar »widerlich«; doch welche Überlegungen, welche Sorgen? » … die Last ist mir nun einmal auferlegt«, welche Last?; »die Unzufriedenheit schüttelt mich«, Unzufriedenheit womit ?; » … und sollte ich auch das Misslingen ganz klar vor Augen haben … ich könnte mich wohl nicht zurückhalten«; aber wovor nur? Hätte Kafka die Klagen der vergangenen Jahre nummeriert und würde hier nur noch die Ziffern notieren: Der Brief wäre um weniges trockener und um vieles verständlicher.
    Die latente Komik dieses ›Diskurses‹ scheint Kafka entgangen zu sein, keineswegs aber die eigene zunehmende Neigung zu blutleeren, übervorsichtigen Formulierungen, die den Briefverkehr allmählich ins Gespensterhafte abgleiten ließ. Er wusste, dass er damit ein Ziel für neuerliche Vorwürfe bot, doch wie fast immer war er mit der Verteidigung zur Stelle, noch ehe die Anklage formuliert war. Denn er wusste , was er tat, ohne dass diese reflexive Wachheit, dieses überwältigende, grelle, gleichsam schlaflose Bewusstsein seiner selbst ihn dazu befähigt hätte, die Fluchtimpulse auch zu steuern, die es so überaus minutiös registrierte. Und darum musste seine Verteidigung der Vagheit ebenso vage bleiben wie alles Übrige:
»Sieh Felice, das einzige was geschehen ist, ist, dass meine Briefe seltener und anders geworden sind. Was war das Ergebnis der häufigern und andern Briefe? Du kennst es. Wir müssen neu anfangen. Das Wir bedeutet aber nicht Dich, denn Du warst und bist im Richtigen, soweit es auf Dich allein ankam; das Wir bedeutet vielmehr mich und unsere Verbindung. Zu einem solchen Anfang aber taugen Briefe nicht und wenn sie doch nötig sind – sie sind nötig – dann müssen sie anders sein als früher.«
    Gewiss, anders. Aber er sagt wiederum nicht, wie sie sein müssen, und die formelhaften Abkürzungen, die er wählt, sind wohl kaum dazu angetan, Felice ein überzeugendes, geschweige denn verlockendes Muster einer künftigen Liebeskorrespondenz vor Augen zu stellen. Von jeher hatte sie den Verdacht, dass die rhetorischen Künste, die Kafka aufwandte und die sie durchaus zu genießen und zu {22} bewundern vermochte, letztlich eine besonders raffinierte Methode des Verschweigens waren, und obwohl er immer wieder vehement widersprach und die Existenz unausgesprochener Hindernisse bestritt, lieferte er im selben Atemzug neue Verdachtsmomente: Er wich aus, er erfand Bilder, er zitierte, anstatt zu sprechen. Es war, als kreisten seine Briefe um ein dunkles Zentrum, in dem sich etwas Unsagbares verbarg.
    Es ist überaus wahrscheinlich, dass Felice Bauer, die ja selbst schon allzu viel Familiäres verschwiegen hatte, sich diese unausgesprochenen Hemmnisse zu konkret, zu äußerlich vorstellte: Einwände der Eltern, finanzielle Probleme, eine Prager Liebschaft, eine peinliche Krankheit vielleicht. Hinweise dieser Art gab es ja durchaus, und einmal gar hatte Kafka so dringlich seine Angst vor Impotenz ins Spiel gebracht – es fehlte nicht viel, und er hätte die Sache beim Namen genannt –, dass sie auf den Gedanken verfallen musste, alle seine Gewissensqualen seien womöglich aus diesem einen Punkt zu kurieren und das werde sich beim künftigen Zusammenleben schon auf ganz natürliche Weise regeln. Darin irrte sie.
    Doch ihr Gefühl, dass entgegen allen Beteuerungen Entscheidendes nicht zur Sprache kam, trog sie dennoch nicht. Kafka hatte sich verändert. Und das Datum, an dem diese Veränderung eingesetzt hatte, war genau zu benennen: Es war der 12.Juli 1914, der Tag, an dem im Berliner Hotel Askanischer Hof die Verlobung aufgelöst worden war, im Beisein von Felices Schwester Erna sowie ihrer engster Freundin Grete Bloch – ein Datum, das für Kafka fortan eine Katastrophe bezeichnete. Denn derart ›kalt‹ erwischt zu werden, unvorbereitet, ja ahnungslos an seinen empfindlichsten Punkten, gleichsam im psychischen Kern
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