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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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attackiert zu werden, noch dazu vor Zeuginnen – eine solche Bloßstellung hatte er seit der Kindheit wohl noch niemals erfahren, und der Schrecken darüber, dass alle defensiven Instinkte dieses eine Mal versagt hatten, ließ ihn nicht mehr los. Wie eine öffentlich empfangene Ohrfeige brannte diese Szene in ihm, und wohl unzählige Male spulte sich das Geschehen vor seinem inneren Auge ab. Er hatte damals im Hotel nicht viel zu entgegnen gewusst und war schließlich in Schweigen verfallen – was gewiss ungeschickt war, ihn aber, wie er jetzt fühlte, vor weiteren Demütigungen vielleicht bewahrt hatte. Weitaus schlimmer war, dass er diese Erfahrung nicht verwinden konnte, weder durch Reflexion noch durch die schon beinahe {23} routinemäßig sich einstellenden Selbstvorwürfe. Nein, er konnte es ihr nicht verzeihen: Zum ersten Mal muss Kafka auch Hass gegen Felice Bauer empfunden haben, ohne indessen eine Sprache dafür zu haben. Er konnte es ihr nicht sagen, dieses nicht.
    Dass jener Hass nach außen sickerte und in den Poren seiner Texte sich festsetzte, vermochte er allerdings nicht zu verhindern. Den PROCESS-Roman kannte Felice Bauer noch nicht, und mit guten Gründen entzog er das Manuskript ihrer Neugierde – sie wäre entsetzt darüber gewesen, mit welcher Kälte sie selbst und Grete Bloch hier porträtiert waren. Statt des Porträts erhielt sie lediglich dessen Rechtfertigung: Er habe im Askanischen Hof Dinge zu hören bekommen, schrieb er ihr, »die fast unter 4 Augen zu sagen unmöglich hätte sein sollen«; »kindlich bösartige Worte« seien es gewesen. Und selbst noch im Frühjahr 1916, fast zwei Jahre danach, konnte es sich Kafka nicht versagen, Felice ein letztes Mal an jenes unselige Tribunal zu erinnern und es definitiv ins Reich des Bösen zu verweisen: »Im Grunde sind mir immer nur die gleichen primitiven Vorwürfe zu machen, deren oberster und blutnächster Vertreter ja mein Vater ist.« [7]  
    Kafka stellte die Stacheln auf, das entging ihr nicht. Doch eine hinreichende Begründung dafür konnte sie ihm nicht entlocken. Denn sein erklärtes Misstrauen gegenüber Briefen – das paradox war, denn wer hätte jemals mehr auf Briefe gebaut? – gründete in einer tieferen, grundlegenden Skepsis gegenüber der Wirkungsmacht der Sprache, und diese Skepsis war durch den Vorfall im Askanischen Hof bestätigt und radikalisiert worden. Kafka glaubte schlechterdings nicht mehr daran, dass etwas Wesentliches, etwas Wahres, das nicht ohnehin gesehen, gefühlt, erkannt wurde, durch erklärende Sätze zu vermitteln oder zu erhellen war. Das betraf seine literarischen Texte – die zu erläutern er sich lebenslang weigerte –, es bezog sich aber vor allem auf menschliche Beziehungen, die nach seiner mittlerweile unverrückbaren Überzeugung nicht von Worten, sondern von Gesten lebten. Vielleicht wäre es heilsam gewesen, hätte Kafka seiner einstigen Braut jenen ausgebleichten, in dürren Klagen sich ergehenden Brief erspart und sich dazu entschlossen, stattdessen ein Blatt aus seinem Tagebuchheft herauszureißen und nach Berlin zu senden – Notizen, die er wahrscheinlich am selben Tag zu Papier gebracht hatte und die in überraschend schlichter Sprache und ohne jeden metaphorischen Aufwand den Kern des Unglücks enthüllen: {24}
»Überlegung des Verhältnisses der andern zu mir. So wenig ich sein mag, niemand ist hier, der Verständnis für mich im Ganzen hat. Einen haben der dieses Verständnis hat, etwa eine Frau, das hiesse Halt auf allen Seiten haben, Gott haben.
Ottla versteht manches, sogar vieles, Max [Brod], F. [Felix Weltsch] manches, manche wie E. [?] verstehn nur einzelnes, aber dieses mit abscheulicher Intensität, F. [Felice Bauer] versteht vielleicht gar nichts das gibt allerdings hier, wo unleugbare innere Beziehung ist, eine grosse Sonderstellung. Manchmal glaubte ich, dass sie mich verstehe, ohne dass sie es wusste z.B. als sie mich, damals als ich mich unerträglich nach ihr sehnte, in der Untergrundbahnstation erwartete, ich in meiner Sucht nur möglichst rasch zu ihr zu kommen, die ich oben vermutete, an ihr vorüberlaufen wollte und sie mich still bei der Hand ergriff.« [8]  
    Sie versteht vielleicht gar nichts. Es fiel Kafka schwer, diesen Satz niederzuschreiben, so schwer, dass er das entscheidende »nichts« zunächst ausließ und es später einfügen musste – als zögerte er, ein juristisch vernichtendes Urteil zu unterzeichnen. Wenn er sich darin nicht grundlegend
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