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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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flimmerten, ohne etwas Wesentliches preiszugeben. Was sie im eigenen Alltag erfuhren, waren knappe und schlechte Lebensmittel, abnorme Inflation, unbeheizte Räume, Zensur, behördliche Schikanen, eine Militarisierung und gleichzeitige Verwahrlosung des öffentlichen Raums. ›Heimatfront‹ nannte das die Presse, aber die Lüge dieses Begriffs war allzu offenkundig, und niemand nahm ihn ernst. Nur wer an der wirklichen Front war, erlebte etwas; die Daheimgebliebenen aber waren zum passiven Dulden verurteilt, dessen Ursprung und Sinn sie den gespreizten militärischen Lageberichten zu entnehmen hatten. Eine Kluft der Lebenswelten tat sich auf, die schlechte Stimmung machte und die gefährlich werden konnte.
    Es gehörte dies zu den modernen, noch unvertrauten Problemen der Vermittlung , die den Politikern immer dringlicher vor Augen standen, je länger der Krieg dauerte: Konnte man ihn nicht sehr bald gewinnen, dann musste man ihn besser ›verkaufen‹. Ein willkommener, wenngleich naheliegender propagandistischer Gedanke war es daher, auch der Zivilbevölkerung den Geschmack des wirklichen Krieges zu vermitteln, ihnen ein Erlebnis zu bieten, das sie in die beschworene Gemeinschaft der Kämpfenden einbinden würde. Die Idee war, den Krieg zu Hause nachzubilden – nicht in Gestalt jener unsäglichen Waffen- und Fahnenausstellungen, die noch im 19. Jahrhundert vergangene Schlachten gleichsam mumifizierten und die historischen Schaustücke auf eine Stufe mit verstaubten naturkundlichen Sammlungen stellten. Nein, eine wirkliche Erfahrung wollte man den abgestumpften Sinnen der Großstädter bieten, etwas, woran sie noch lange denken, wovon sie noch lange erzählen würden.
    Schon kurz nach Kriegsbeginn hatte man erbeutete Waffen im Triumph durch die Städte getragen, und die vielgerühmte Leipziger ›Weltausstellung für Buchgewerbe und Grafik‹ (die natürlich auch der literarisch interessierte Dr.Kafka schon gesehen hatte) eröffnete eine eigene Kriegsabteilung, in der vier feindliche, bewaffnete Soldaten {12} aus Wachs dem Besucher in die Augen starrten: ein billiger Nervenkitzel, der dankbar angenommen wurde. Freilich, die Leute nicht nur staunen, sondern buchstäblich mitmachen zu lassen – auf diesen Gedanken war im Herbst 1914 noch niemand verfallen. Denn zu jener Zeit stellte man sich den Krieg als eine großflächige, explosive und massenhafte Bewegung vor, die artifiziell ebenso wenig nachgebildet werden konnte wie beispielsweise das Meer. Erst die allmähliche Erstarrung des Krieges und die – von Militärexperten längst vorhergesagte – entscheidende Rolle des Schützengrabens eröffnete die Möglichkeit, den Krieg zu spielen . Denn in der Erde wühlen, das konnte man überall, warum also nicht auch am Reichskanzlerplatz im Berliner Westend, wo dann im Sommer 1915 erstmals Neugierige in einen mit Holz verkleideten, trockenen und sauber gefegten ›Schauschützengraben‹ klettern durften. [1]  
    Warum diese Gräben, die natürlich bald in anderen Städten nachgeahmt wurden, derart rasch zu einem Anziehungspunkt der Massen, ja geradezu volkstümlich werden konnten, ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen – schließlich handelte es sich um eine archaisch wirkende, rein defensive Maßnahme, die hier zur Schau gestellt wurde, als handele es sich um technisches Wunderwerk. Wie die Maulwürfe unter der Erde sich zu verstecken und von dort aus wochen-, ja monatelang den Gegner zu belauern – das war keineswegs der virile, ritterliche Kampf, den man sich in leuchtenden Farben ausgemalt hatte, und der versprochene schnelle Sieg war mit solchen Mitteln gewiss nicht zu erringen. Doch die Propaganda und die Sinnlichkeit der Darbietung zeigten Wirkung, und allmählich überzeugte sie die Menschen davon, dass sie hier an etwas Großartigem teilhatten: Man wurde belehrt über komplexe, mäandrisch oder zickzackförmig verlaufende Graben systeme , die ausgestattet waren mit bewohnbaren Unterständen, Horchpostengängen, Telefonen, Drahthindernissen und natürlich mit Ausfallstufen für künftige Sturmangriffe. Das alles durfte man hautnah erleben, und wer nicht dabei war, verfolgte das Ereignis in der Wochenschau: Dort war zu beobachten, wie Damen der höheren Gesellschaft, mit modischen Hüten und bodenlangen Gewändern, gestützt auf uniformierte Begleiter, die Stufen hinab in den Graben schritten, um sich einen Eindruck vom Krieg zu verschaffen.
    So etwas wollte man selbstverständlich auch in Prag sehen.
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