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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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Ein {13} ungenutztes Gelände, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen war, fand sich schnell: die langgestreckte, den Fluss über Kilometer teilende Kaiserinsel im Norden der Stadt, deren Spitze unmittelbar gegenüber dem Baumgarten lag, einer weiträumigen Parkanlage. Im Sommer war dies das Erholungsareal aller Prager, die sich ein eigenes Häuschen auf dem Land nicht leisten konnten, und unschwer war vorherzusehen, dass nahe den Gartencafés, Spielplätzen und Liegewiesen ein Original-Schützengraben als neues Unterhaltungsangebot höchstwillkommen sein würde.
    Der Erfolg war überwältigend. Obwohl es – kaum war der Graben feierlich eröffnet – in Strömen zu regnen begann und wochenlang die Sonne nicht mehr zum Vorschein kam, vermochte die Straßenbahnlinie 3 den Andrang kaum zu fassen: Allein am 28.September, dem arbeitsfreien böhmischen Wenzelstag, drängten sich 10 000 Menschen durch die Drehkreuze des ›Schauschützengrabens‹, während gleich nebenan die Bierfässer rollten und die Kapelle des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 51 tapfer den Regenböen standhielt. Das war keine Ergänzung des Baumgartens mehr, das war ein Rummelplatz ganz aus eigenem Recht. Und das Schönste war, dass man sich hier vergnügen durfte mit völlig ruhigem Gewissen: Denn die Eintrittsgelder kamen selbstverständlich »unseren verwundeten Kriegern« zugute, und selbst der Prager Weihbischof fand es opportun, die Show mit 50 Kronen zu unterstützen.
    Dass »weder Wind noch Wetter der ganzen Anlage auch nur den geringsten Schaden zuzufügen vermögen«, wie das Prager Tagblatt versicherte, erwies sich freilich als Irrtum. Denn der Dauerregen ließ die Moldau anschwellen, Meter um Meter; schließlich überflutete sie die Insel und mit ihr den mühsam angelegten Graben. Wochen brauchte es, um Schlamm und Trümmer zu beseitigen. Schließlich aber, Anfang November, kam die stolze Meldung, dass man der Prager Bevölkerung nunmehr eine verbesserte Version bieten könne: Neben dem frisch befestigten Schützengraben war eine überdachte Restaurationshalle entstanden, mit Pilsener und Würsteln, und Marschmusik gab es von nun an jeden Sonntag.
    Dr.Kafka war kein musikalischer, doch ein neugieriger Mensch. Beinahe hätte er die Sensation verpasst, denn er hatte keine Lust verspürt, mit schmerzenden Schläfen und notorisch müde in einer Warteschlange auszuharren, zwischen tropfenden Schirmen und {14} quengelnden Kindern. Ein Film von der Eröffnungsfeier war ja in Prag schon zu sehen gewesen, Ansichtskarten waren in Umlauf, jeder Volksschüler erzählte davon – man brauchte sich jenen Unbilden gar nicht auszusetzen und blieb dennoch auf dem Laufenden. Doch gerade jetzt lohnte es vielleicht, genauer hinzusehen. Denn über den Krieg wurde neuerdings wieder gern und ausführlich gesprochen, die lange vermissten Siegesmeldungen beherrschten Tag für Tag die Schlagzeilen, und in den Erörterungen im Büro und auf der Straße keimte erstmals seit Monaten wieder die Frage auf, wie es danach , wenn alles vorbei war, eigentlich weitergehen würde.
    Auch der Beamte Kafka, der sich aus politischen Diskussionen heraushielt, wo immer es anging, geriet in eine Erregung, die ihm fremd, beinahe unheimlich war. Natürlich hatte er Pläne. Er wollte weg von Prag, hatte Sehnsucht nach jener westlichen Urbanität, die er in Paris und Berlin schon kennengelernt hatte und der gegenüber ihm das alte Prag, seine Heimatstadt, wie ein stickiger Hinterhof erschien. Seine Eltern, Schwestern und Freunde wussten von dieser Sehnsucht, auch wenn er nur selten davon sprach. Aber recht ernst nahm es niemand. Es war Zukunftsmusik, die den zunehmend schäbiger werdenden Alltag keinen Augenblick vergessen ließ. Die auch die Angst nicht vergessen ließ. Kafka hatte zwei Schwäger, die an der Front standen. Wenn sie am Ende lebend heimkehrten, durfte man vielleicht auch an Berlin denken.
    Doch der Staat selbst war es, der die Frage des Danach jetzt machtvoll auf die Tagesordnung setzte. Die österreichisch-ungarische Monarchie bot ihren Untertanen eine Wette an: Wer auf Sieg setzt und gewinnt, erhält Jahr für Jahr 5½ Prozent Zinsen und am Ende den Einsatz zurück; wer verliert, verliert alles. Natürlich wäre es unvorteilhaft gewesen, ausdrücklich von einer Wette zu sprechen, denn dann hätte man die Möglichkeit einer militärischen Niederlage erörtern müssen: ein Thema, das selbst unter den Technokraten des Krieges noch lange tabu war. Man
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