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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Autoren: Reiner Stach
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letztlich gegen ihn selbst wenden, sie war selbstzerstörerisch, da sie doch auch das Mögliche, ja selbst das Einfachste unmöglich machte.
    Aber Kafka lebte doch. Und darum war es ganz unlogisch, die anhaltenden literarischen, sozialen und vor allem die erotischen Probleme des Freundes allein auf dessen Sucht nach Vollkommenheit zurückzuführen. Wäre das tatsächlich der Quell allen Unglücks, argumentierte Brod, dann stelle sich die Frage, warum ihm dieser Perfektionswille nicht auch alles Übrige unmöglich mache, das Alltägliche, die Büroarbeit, ja sogar das Essen. »Das ist richtig«, antwortete Kafka trocken. »Zwar ist das Vollkommenheitsstreben nur ein kleiner Teil meines grossen gordischen Knotens, aber hier ist jeder Teil auch das Ganze und darum ist es richtig was Du sagst. Aber diese Unmöglichkeit besteht auch tatsächlich, diese Unmöglichkeit des Essens u.s.w. nur dass sie nicht so grob auffallend ist wie die Unmöglichkeit des Heiratens.« [6]   Ja, das war Kafka. Man kam ihm nicht bei. Und vielleicht erinnerte sich Brod bei der Lektüre dieser ebenso abgeklärten wie unglücklichen Zeilen daran, dass er kaum je einen Text des Freundes gelesen hatte, in dem nicht Unmögliches geschah.

    Ihr einstiger Verlobter habe sich verändert, befand Felice Bauer im Frühjahr 1915, und vermutlich war es die Veränderung der eigenen Situation, die ihr den Blick dafür schärfte. Sie war längst nicht mehr die »kindische Dame«, als die sie sich einmal gegenüber Kafka übermütig präsentiert hatte, und ihr gewohnheitsmäßiger Optimismus war erodiert unter dem Druck familiärer Katastrophen. Der geliebte und einzige Bruder, wegen einer Unterschlagung nach Amerika geflohen, ließ wenig von sich hören. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Der Vater, ein schwacher Charakter, dessen Gegenwart aber trösten konnte, war plötzlich einem Infarkt zum Opfer gefallen, mit nur 58 Jahren, und die Trauer Felices und ihrer Schwestern reichte gewiss tiefer als die der Mutter. Auch ihre leitende Position in der Berliner Lindström A. G., auf die ihr Verlobter so stolz war, als sei es seine eigene, hatte sie mittlerweile eingebüßt. Denn für Herbst 1914 war ja die Hochzeit geplant, in Prag wollte sie ein neues Leben beginnen, ein {20} Leben ohne Büro, wie es den Ehekonventionen entsprach, und darum hatte sie fristgerecht gekündigt. Und musste noch froh sein, jetzt, da alle Pläne sich zerschlagen hatten, in der eben erst begründeten ›Technischen Werkstätte‹ unterzukommen, einem nicht sehr bedeutenden Zulieferbetrieb für Feinmechanik, der auf den deutschen Handelsmessen gewiss keiner eleganten Repräsentantin bedurfte und nach dem auch Kafka nur selten fragte.
    Dieses abnehmende Interesse an Felices äußerem Leben, dessen Einzelheiten er noch im vergangenen Jahr beständig angemahnt und wie eine Droge aufgesaugt hatte, war jedoch keineswegs die einzige auffallende Veränderung, die sie inmitten all des übrigen Kummers bedrückt zur Kenntnis nehmen musste. Im Januar hatten sie sich im Grenzort Bodenbach getroffen, mit der Hoffnung auf Verständigung, vielleicht Versöhnung, doch Kafka blieb reserviert, verweigerte jede körperliche Näherung und stellte stattdessen bohrende Fragen, die sie nicht beantworten konnte. So schleppte sich die Korrespondenz in unregelmäßigen, teils wochenlangen Abständen fort, ein dürftiges Rinnsal, gemessen an dem hitzigen Briefstrom, den Kafka damals, nach der ersten Begegnung im Herbst 1912, sogleich entfesselt hatte. Und dennoch behauptete er, »nicht anders geworden« zu sein. Während doch beinahe jede einzelne Briefzeile das Gegenteil bezeugte.
    Einstmals hatten Felices Mutter und ihre Schwester Toni ein wenig mitgelesen, heimlich, doch ohne Gewissensbisse; es gab einen kleinen Familienskandal, danach wurden Kafkas Briefe sicherer verwahrt. Diesen Brief hingegen durfte man offen liegen lassen: eine für jeden Außenstehenden vollkommen unverständliche Meta-Klage , aus der die forschende Mutter noch nicht einmal den bürgerlichen Status jener unseligen Beziehung hätte herausbuchstabieren können. Es war, als liefere Kafka nur noch einige wenige, dünn gestrichelte Umrisse, als verweise er auf eine von Tausenden von Seufzern eingegrabene emotionale Spur, in der Überzeugung, die Adressatin werde das farbige Ausmalen der Details dann schon allein besorgen. Nicht, dass er Vagheiten und Andeutungen je gemieden hätte. Doch dieser Brief ist der erste, der Satz für Satz aus
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