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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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EINS
    E s ist noch dunkel, als mein Vater die Haustür aufreißt. Die Geräusche der Nacht weichen zurück, als verstumme die Welt, bis er über die Schwelle tritt. Die zwei Stufen der Vortreppe führen auf den Randstreifen der Straße hinab. Mit vorgebeugtem Oberkörper sperrt er die Tür hinter sich zu. Wo früher sein Wagen stand, ist jetzt einzig ein Ölfleck im Schein der Laterne sichtbar. Immer denkt er an das Geräusch der Reifen, die auf dem unbefestigten Seitenstreifen durchdrehten, als der Käufer mit dem Wagen davonfuhr. Und immer hat er den Geruch seines Autos in der Nase, geht er die ersten hundert Meter die Straße hinunter; und bevor er den Schein der letzten Laterne hinter sich lässt und in die Dunkelheit der Landschaft eintaucht, spürt er die Kraft hinter Lenkrad und Gaspedal und den geheimen Stolz inmitten des Verkehrs, als besäße er völlige Kontrolle über ein Tier mit unheimlichen Kräften.
    Der Morgen dämmert. Entlang der Straße wird im frühen Licht vereinzelter Müll sichtbar: blaue Säcke, Tüten und Becher von McDonald’s und Burger King, deren Restaurants hinten an der Zubringerstraße stehen, wohin ich ihn zum Essen einlud, immer am vierten Donnerstag jeden Monats; dabei meinen Wagen nie verließ nach den zweihundert Kilometern Fahrt von München, so lange hupte, bis mein Vater, das Jackett im Laufen anziehend, nach draußen kam. Dann fuhren wir schweigend in eines der Schnellrestaurants. Beim ersten Mal hatten wir auf dem Parkplatz im Auto gegessen, einen Monat später schüttelte er den Kopf, als ich an der Gegensprechanlage hielt und die Bestellung durchgeben wollte: Dass du dir wenigstens die Beine vertrittst, sagte er.
    Die Plastiktische und Stühle haben meinem Vater gefallen, das Essen mit den Händen, die Fernseher in allen vier Ecken des Raumes, die vielen Kinder und ihr Lärm. An einem dieser Donnerstagnachmittage willigte mein Vater ein, als Bürge einzutreten für meinen Kredit; an welchem genau, wissen wir später nicht mehr.
    Es ist kurz vor Sonnenaufgang. Die Hälfte der Strecke hat er jetzt hinter sich. Er eilt weiter, am äußersten rechten Rand der Straße, sein Spazierstock sticht ins Kiesbett. Seine Lunge pfeift. Dass er nicht genug Wasser getrunken habe, um den Schleim zu lösen, denkt er. Er wird zu früh sein, wie er die letzte Woche von Tag zu Tag immer früher gekommen ist. Die Stunde und fünfzehn Minuten zu Fuß: früher losging, schneller ging. Und die Frau denkt – er hat es ihr gesagt –, er nehme den Bus zu ihr raus, weshalb er noch einen Schlenker machen muss, um aus Richtung der Bushaltestelle zu kommen. Sie wird schon auf der Veranda stehen und ihn erwarten. Und mein Vater fragt sich unablässig, ob sie aus Freundlichkeit oder Ungeduld dort auf ihn wartet, bevor sie im Haus verschwindet und ihm einen Kaffee und ein Handtuch bringt. Er trinkt den heißen Kaffee in schnellen Schlucken, um gleich anzufangen. Ihr Lächeln, aus Resignation vielleicht, weil sie sich eingesteht, einen Fehler begangen zu haben, als sie und ihr Mann meinen Vater für die Arbeiten auf ihrem Grundstück eingestellt haben.
    Am Horizont taucht das Haus als Schatten im Gegenlicht auf. Mensch, Siggi, denkt mein Vater, bleibt stehen, wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht und holt Luft.
    Vielleicht hat er sich auch gar nicht gewundert, als mein Hupen ausblieb an jenem Donnerstagnachmittag vor acht Monaten. Mein Vater wartete. Am Küchentisch sitzend, trank er Wasser gegen den Hunger, während der Schatten des Pflaumenbaums im Garten mächtiger wurde, die Blumenbeete und Rosenstöcke in der Dämmerung zu grauen Klumpen zusammenwuchsen und er das Deckenlicht anknipste. Nachdem die Sonne untergegangen war, briet er sich zwei Spiegeleier.
    Ach, Siggi, sagte er, als ihm ein Eigelb aufplatzte und in der Pfanne zerlief. Ach, Siggi, sagte er, als er seinen Teller und das Besteck abspülte: ich hab nicht mal deine neue Nummer.
    Sorgen hat er sich keine um mich gemacht.
    Als mein Vater sich dem Grundstück nähert, tritt die Frau auf die Veranda. Sie winkt. Mein Vater hebt die Hand und geht die Auffahrt hoch, und sie fragt: Haben Sie heute einen früheren Bus genommen?
    Er schüttelt den Kopf und sagt: Der fuhr schneller heute Morgen.
    Wegen dem Stumpf hinten, sagt sie: mein Mann hat extra den Land Rover dagelassen – wenn Sie wollen nur.
    Das wird der Jeep nicht packen, sagt mein Vater.
    Versuchen können Sie’s, sagt sie.
    Mein Vater nickt und sieht am Haus vorbei
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