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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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Sohnes sei Gutsverwalter gewesen, dass sie viel verloren habe.
    Die Tage nach jenem Donnerstag, an dem ich nicht kam, die zu einer Woche wurden und zu zweien, bis der Monat fast vorbei war, und wieder der vierte Donnerstag. Ich komme nicht. Mein Vater sitzt am Küchentisch, trinkt Gläser voll Leitungswasser gegen den Hunger. Als die Nacht einbricht, ruft er die Auskunft an und bekommt eine Nummer durchgesagt, die längst nicht mehr gültig ist, was er bereits weiß. Dann ruft er bei der Polizei an, die wollen sich wieder melden, wenn sie München kontaktiert haben. Es ist nicht das erste Mal, dass er von mir nichts gehört hat für längere Zeit, gedacht hat er aber, ich hätte mich geändert. Und zwei Tage später meldet sich die Bank bei ihm, die letzten Raten für den Kredit seien nicht eingegangen, dass er sich vorstellen könne, was das bedeute. Sie vereinbaren einen Termin, der überflüssig ist, zu dem mein Vater seinen besten Anzug und sein bestes Hemd anzieht. Er sitzt dem Sachbearbeiter in einem kleinen Büro gegenüber und kann nur eines denken: selbstschuldnerische Bürgschaft. Mit der Hand fährt er sich übers Gesicht, weil er nichts anderes zu tun weiß. Er wünscht sich irgendetwas in die Hand, ein Werkzeug; der Sachbearbeiter tippt mit dem Finger auf den vor ihm liegenden Vertrag und zuckt mit den Schultern.
    Jeder Tag erinnert ihn an mich: an sich und mich am Grab meiner Mutter. Den Säugling hielt er an die Brust gedrückt, weil ich nicht aufhörte zu schreien, in den quadratischen Schacht in der Erde starrte er, auf den Sarg seiner Frau, meinen Herzschlag spürte er wie das Pochen einer Ader an der Stirn. Auf meinem weichen Hals wackelte mein Kopf, ein Körper wie eine aus ihrem Panzer gezerrte Schildkröte. Während meine Großmutter immer wieder versuchte, ihm das Kind abzunehmen, damit er eine Hand frei hatte, um endlich die Rose hineinzuwerfen und eine Schippe Dreck hinterher.
    Er holt Erde und Steine aus dem hinteren Teil des Gartens und schaufelt das Loch zu, das der Baum hinterlassen hat. Mit der Motorsäge zersägt er den Stamm und stapelt das Holz im Schuppen. Er schwitzt und hustet und greift sich an den Hals. Sein Arzt hat ihm gesagt, dass er trockene, staubige Luft meiden, dass er an die See fahren sollte. Eine Insel hat er ihm empfohlen, in Ostfriesland, auf der keine Autos zugelassen sind. Er denkt nicht daran.
    Durch das Schuppenfenster beobachtet er die Frau, die ihm wie jeden Tag einen Teller mit Leberwurstbroten bringt, auf die sie zu dick Butter streicht. Das parfümierte Öl, mit dem sie sich einreibt, bevor sie nach draußen tritt, glänzt auf ihrer Haut, und er bildet sich ein, dass er die Schwere des Dufts, der ihn beim ersten Atemzug fast ersticken lässt, von hier aus bereits riechen kann. Er will sie immer fragen, was das für ein Öl ist, traut sich aber nicht. Sie lächelt, und er bückt sich, um einen doppelten Knoten in seinen Schuh zu machen, und atmet ein. Eine Spur getrockneten Blutes an ihrer Wade schimmert im Gegenlicht.
    Während er im Schatten einer Birke sitzt und dicke Brocken Brot schluckt, betrachtet er das Land, die Apfelbäume, die verfaulten Früchte vom vergangenen Jahr im spärlichen Gras.
    Das ist eine todsichere Sache, sagte ich ihm: eine Lizenz zum Gelddrucken!
    Klingeltöne fürs Handy verkaufen? fragte er, und ich nickte: Mit den richtigen Servern und Programmen und ein bisschen Werbung kein Problem, sagte ich und lächelte: ich brauch nur Eigenkapital, um mich da einzukaufen – dann bin ich Gesellschafter.
    Gesellschafter, sagte er.
    Er stellt den Teller auf die Veranda und holt das Werkzeug aus dem Schuppen. Den Zaun soll er erneuern. Dann haben wir erst mal nichts mehr für Sie, hat der Mann ihm gesagt.
    Mein Vater kann nicht langsam tun mit der Arbeit. Die Bank schätzte den Wert des Hauses auf hunderttausend Euro und akzeptierte es als Sicherheit. Sie zögerten nicht lange nach meinem Verschwinden und beantragten die Zwangsvollstreckung. Selbstschuldnerische Bürgschaft, sagten sie: da stehen Sie eben sofort in der Kreide.
    Und er hat nie viel gewollt, wünscht sich jetzt manchmal, dass seine Lunge ihn umbringt, bevor er das alles durchgestanden hat; und oft stellt er sich vor, wie ich an seinem Grab stehe und um Verzeihung bitte, die mir aber verwehrt bleibt durch das unerbittliche Schweigen des Todes: Kindischer Depp, denkt er dann und hofft, dass es mir gut geht. Mein Vater hat überlegt, einen Brief an mich beim Notar zu hinterlegen:
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