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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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mit den Kontoauszügen öffnet er nicht mehr, er weiß, seine Rente reicht nicht für die Raten und alle Daueraufträge. Auf dem Sparbuch hat er zwei Euro fünfzig, damit es nicht aufgelöst wird. Er erinnert sich manchmal, wie er nach Ende der dreimonatigen Probezeit seiner Lehre zum ersten Mal in seinem Leben Geld ausgegeben hat, ohne darüber nachzudenken. Die Single von Ted Herold hat er noch in dem kleinen Plattenregal im Wohnzimmer. Seitdem hat er sich nie mehr arm gefühlt. Er zählt das Geld, das ihm die Frau und der Mann gegeben haben. Er wird ihnen nichts von mir erzählen. Nicht, wie ich ein erstes Mal verschwand, ein zweites Mal, ein drittes Mal und jetzt wieder. Ich bleibe unsichtbar. Niemand hier interessiert sich für mich außer meinem Vater. Weil ich es so will – weil er es so will –, ich bin nichts als die zwei Spalten eines Kontoauszugs, eine für Haben, eine für Nichthaben. Er spricht nicht über mich, wie man über Geld nicht spricht. Aber ich weiß, dass er im Schein der Stehlampe sitzt im Wohnzimmer, Länder – Menschen – Abenteuer schaut im dritten Programm oder in einem der Lassiter-Romane liest und ihn weglegt und sich erinnert, wie ich einen Sommer nicht zurückgekehrt bin von einem Urlaub in London mit einem Mädchen, dessen Namen er mittlerweile vergessen hat. Dass er damals dachte: die sieht aus wie Siggis Mutter! hat er mir Jahre später erst gesagt. Er hat mir aber nicht erzählt, wie er mit heruntergelassenen Hosen auf der Bettkante sitzt in seinem Schlafzimmer und wichst mit dem Bild meines Mädchens vor Augen und im Kopf und der Vorahnung seiner Schande bereits im Magen; nach dem Abspritzen den Blick zur Decke richtet, mehr zur Vergewisserung als zur Entschuldigung, bevor er sein Sperma vom Laken und vom Teppich wischt. Und wie er dann denkt, als ich nicht zurückkomme aus dem Urlaub, dass das die Strafe sei für alles. Nach vierundzwanzig Stunden gab er eine Vermisstenanzeige auf. Er rief in der Gießerei an und bekam frei und lauerte neben dem Telefonapparat, während die Zeit wie ein Parasit an ihm fraß. Er schlief nicht, er aß nicht, er rasierte und wusch sich nicht. Er schlug sich mit den Fäusten auf den Kopf, bis sich sein Schädel taub anfühlte. Aber davon erzählte er mir nichts, als er mich vom Bahnhof in Stuttgart abholte, wo ich vom Schaffner zwei Beamten wegen Schwarzfahrens übergeben worden war. Er sprach nicht mit mir. Er nickte, und ich nickte, mehr musste ich nicht wissen.
    Er hat nur für mich gelebt. Für Wandertage und Klassenfahrten meiner Stufe meldete er sich als Betreuer und hielt Wache auf dem Gang in der Jugendherberge in Wien, damit sich keiner der Jungs zum Schlaftrakt der Mädchen schlich; er wartete mit dem Atemalkoholtestgerät auf unsere Rückkehr von dem freien Abend in der Prager Altstadt; er rief mich jeden Abend an, nachdem ich zum Studium nach München gezogen war – und immer war Stille in der Leitung, nahm ich den Hörer ab, als müsse ich ihm zuerst erklären, warum er mich anrief; er hatte den Mietvertrag für meine erste Wohnung unterschrieben, ohne mich zur Besichtigung mitzunehmen.
    Mit dem Erneuern des Zaunes um das Grundstück ist mein Vater einen Tag früher fertig geworden. Er steht am Grenzpfosten, legt die restlichen Krampen in die Schachtel zurück und betrachtet seine Arbeit. Er weiß, dass die Frau nicht genügend Geld im Haus hat, um ihm den restlichen Lohn auszubezahlen, sie hat es ihm am Morgen gesagt. Vielleicht hat er sich deswegen beeilt. Sie will ihren Mann anrufen, damit der Geld mitbringt. Mein Vater räumt das Werkzeug in den Schuppen und setzt sich auf die Stufen der Veranda. Eine halb zerquetschte Wespe windet sich auf der Terrakotta-Kachel neben seinem Schuh. Die Frau muss auf sie getreten sein, als sie nach meinem Vater gesehen und er ihr gesagt hat, er sei bald fertig mit dem Zaun. Mit dem Absatz seines Stiefels zertritt er die Wespe und dreht ihn, als drücke er eine Zigarette aus. Es bleibt nicht viel übrig von dem Insekt. Die Frau ruft ihn, er steht auf und nimmt seinen Spazierstock vom Geländer der Veranda. Drinnen ist es dunkel, die kühle Luft bewegt vom Ventilator.
    Ob er seine Schuhe ausziehen solle, fragt mein Vater auf der Türschwelle, und die Frau sagt: Ja, bitte.
    Er zögert und betritt das Haus nicht.
    Ich komm einfach morgen noch mal raus, sagt er durch die Tür: so dringend ist mir das Geld nicht.
    Mein Mann ist bald da, sagt sie und zuckt mit den Schultern: da können Sie das Busgeld
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