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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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doch sparen.
    Mein Vater sieht die Frau an: Ich geh gern zu Fuß, sagt er, und sie hebt die Hände und lässt sie wieder fallen. Mein Vater fragt sich, was sie jetzt tun wird hier draußen, den ganzen Tag allein, mit niemandem, den sie kontrollieren kann. Wahrscheinlich wird sie weiter um das Kinderzimmer in der oberen Etage schleichen, wo das Mobile von der Decke hängt und die Plüschtiere im Gitterbettchen alle paar Tage neu arrangiert werden, um mit ihren starren Glasaugen wie eine Horde verrückt gewordener Zirkustiere für ewig auf das große Finale zu warten; bestimmt wird sie irgendwann anfangen, morgens ihre Folsäure-Tabletten zu schlucken, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen wegen der vielen Zigaretten, die sie raucht; sie wird verschwitzt aufschrecken aus der Stille, hat sie sich über den Mittag hingelegt, und aus dem Fenster auf das Land sehen, das im Glück eines langen Sommers vertrocknet.
    Ein Wagen hält vor dem Haus.
    Wahrscheinlich sind wir morgen nicht da, sagt sie und tritt aus der Küche ins Wohnzimmer: wir wollten nach Köln, wo die Kinder meines Mannes mit ihrer Mutter leben. Sonst könnten Sie morgen gerne kommen.
    Mein Vater nickt.
    Sind Sie eigentlich verheiratet? fragt sie, während das Schloss der Haustür aufspringt.
    Der Mann steckt meinem Vater, der immer noch an der Hintertür steht, hundert Euro extra zu.
    Als Prämie, sagt er, und mein Vater verspürt den Drang, den Schein aufzufressen vor seinen Augen.
    Danke, sagt er, steckt das Geld in seine Brieftasche und gibt dem Mann die Hand, bevor er sich der Frau zuwendet.
    Ich fahr Sie, sagt sie.
    Ich geh gern zu Fuß, sagt er.
    Aber ich kann Sie doch fahren, sagt sie.
    Ich würde dir nicht verzeihen, wenn du mich so bedrängen würdest, sagt der Mann: und der Herr Dix ist nicht mal verheiratet mit dir.
    Mein Vater lächelt, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, und der Mann sagt: Danke Ihnen für alles.
    Er ist früher auf der Landstraße als sonst. Über den Wipfeln der Bäume türmen sich die Wolken. Wind kommt auf und fegt den Staub über den Asphalt, das Unterholz gerät in Bewegung, als flöhe alles Getier in einen tieferen Teil des Waldes. Mein Vater kann die Spannung des Gewitters in der Luft spüren. Er geht schneller, muss aber direkt auf das Unwetter zusteuern, wo das Licht schwindet am Horizont. Er hustet und spuckt seinen Auswurf aus. Der erste Blitz reißt den Himmel auf, und mein Vater weiß nicht, was tun. Er kann sich nirgends unterstellen, es gibt keine überdachte Bushaltestelle an diesem Teil der Straße. Die halten mich doch für einen Deppen, sagt er, nachdem ihm der Gedanke gekommen ist, zurückzulaufen zum Haus und bei der Frau und dem Mann Zuflucht zu suchen. Wenn ich jetzt sterbe, denkt er und will loslaufen, bleibt aber stehen. Wenn ich jetzt sterbe, denkt er und spürt die Grenze seines Körpers, das Leben unter der Haut, die ihn trennt von der Welt. Er springt über den Straßengraben und in den Wald. Mit dem Spazierstock schlägt er auf ein paar Triebe ein. Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen, hat seine Mutter behauptet, und er starrt in das Gehölz, das nur aus Kiefern besteht. Als er mit seiner Mutter hierherkam, war er ein Kind. An die Flucht erinnert er sich kaum – die Mutter hat nie davon gesprochen. An das Auffanglager erinnert er sich und an das Zimmer oder die Baracke oder was es war, wo sie mit den vielen anderen Flüchtlingen schliefen, und wie sicher er sich dort gefühlt hat im Bett mit seiner Mutter. Während er sich in eine Kuhle im Boden kauert, erinnert er sich, wie sie gemeinsam Holz sammeln gingen. Nur Äste, die auf dem Boden lagen, durften sie und die anderen Flüchtlinge aufheben – der Waldboden wirkte bald wie gefegt. Wie sie einmal versuchten, einen halb verrotteten Baumstumpf auszugraben und dabei fast erwischt worden wären vom Waldschütz; wie er immer neben seiner Mutter herrannte, weil die so eilig ging; wie er ihr gegenüber – er weiß nicht mehr, warum – einen ununterdrückbaren Fluch ausstieß und sie ihn nicht schlug, ihm schweigend und zielstrebig Reispudding kochte aus der letzten Milch, die sie hatten, und er heulend und flehend die Schüssel leer aß am Abend, während ihm die Mutter aufrecht gegenübersaß und für den Rest der Woche ihren Getreidekaffee schwarz trinken musste, den sie doch nur mit Milch ertragen konnte, wie er wusste.
    Das Gewitter lässt nach und zieht weiter. Tropfen fallen aus den Wipfeln, bei jedem Windstoß
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