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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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auf den Hektar Land dahinter. Die Spitzen der Steinernen Jungfrauen im Eselsburger Tal kann er ausmachen in der Entfernung. Er hat die Eberhards gekannt, die früher hier gewohnt haben, die hier gestorben sind. Die Kastanie, die der Mann und die Frau haben fällen lassen, hatte der Großvater des alten Eberhard gepflanzt. Vor ein paar Jahren war mein Vater zu dessen Beerdigung gegangen. Die Witwe hatte während der Trauerfeier gelächelt und auch später in der Stadt, wenn er sie beim Einkaufen traf. Und einmal fragte er sie, ob es ihr gut gehe, und sie antwortete: Mit jedem Tag, der vergeht, kommen mein Mann und ich uns wieder näher – mir geht’s immer besser; und ging nickend davon.
    Mein Vater gräbt den Baumstumpf frei, schlägt mit dem Beil die dicksten Wurzeln ab und legt die Kette an. Schweiß tropft von seiner Stirn und landet glitzernd an der aufgeworfenen Rinde des Stumpfes. Er spürt den Blick der Frau in seinem Rücken, ihre Ungeduld über die alltägliche Abwesenheit ihres Mannes, dass sie es ist, die meinen Vater bei etwas kontrollieren muss, wovon sie weniger versteht als er. Immer lauert sie hinter einem anderen Fenster des mächtigen Hauses, und immer verschwindet sie, dreht er sich zum Gebäude, nur um ihm Sekunden später ein Glas Limonade zu bringen, als habe sie das Getränk bereitstehen für den Fall, sie würde ertappt. Heute dreh ich mich nicht um, denkt er und zieht die Schlaufe stramm. Die Kette wird reißen oder die Reifen des Land Rovers werden durchdrehen und sich eingraben, den Stumpf aber würde er nicht aus der Erde bekommen – das wird ihr Mann wissen, denkt mein Vater: einen Vorwand suchen die doch nur.
    Das andere Ende der Kette macht er an der Anhängerkupplung fest und tätschelt die Heckscheibe des Wagens: Wir versuchen’s einfach, sagt er, spuckt seinen Auswurf aus und setzt sich hinters Steuer und freut sich darauf, den Motor anzulassen.
    Der Mann und die Frau wissen wenig über ihn. Dass er dies und das gemacht hat – und jetzt die Rente eben nicht reicht –, hat er ihnen erzählt. Sie haben ihm nach einer Woche den ersten Lohn in bar gegeben: Rechnung brauchen wir ja nicht, hatte der Mann gesagt und gelächelt.
    Was die denken, denkt er und gibt Gas. Aus den Augenwinkeln sieht er die Frau durch die Hintertür und auf die Veranda treten, bevor der Staub den Wagen einhüllt. Dass sie auf alles achten wird, weiß er, dass sie alles registrieren wird, um später ihrem Mann, entdeckt der einen Fehler, sagen zu können, wann und wie er begangen wurde. Dass er mit dem Gartenschlauch Wasser um den Wagen herum hätte sprühen sollen, denkt er, dann würde es nicht so stauben. Dann spürt er, wie der Griff der Wurzeln im Erdreich nachlässt, und erkennt durch die Heckscheibe im gelben Nebel, dass der Stumpf sich hebt, und merkt im selben Moment, dass sich die Anhängerkupplung verzieht, und geht vom Gas und drückt das Pedal wieder durch in der Hoffnung, dass dadurch auch das Fahrgestell des Jeeps Schaden nimmt.
    Da sehen Sie, sagt die Frau.
    Gemeinsam betrachten sie den Stumpf, der fünf Meter von ihnen entfernt am Heck des Land Rovers liegt. In dem Loch, das er hinterlassen hat, kriechen Käfer und Asseln, Würmer winden sich in der Erde.
    Da sehen Sie, sagt die Frau.
    Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, und mein Vater verspürt unwilligen Stolz in diesem Moment; die Berührung ihrer Hand und wie sie neben ihm steht, ihr Nacken schmal und lang unter den am Hinterkopf verwirbelten, über die Schultern bis zur Brust fallenden Haaren, und er nicht anders kann, als Glück zu empfinden einen Atemzug lang und Fürsorge für diese schmale Frau.
    Wenn der Wagen mal keinen Schaden genommen hat, sagt er.
    Sie sind ein guter Arbeiter, sagt sie und geht davon.
    Ein guter Arbeiter, denkt mein Vater und an die Geschichte, die er mir bereits tausendmal erzählt hat, die er ihr jetzt vielleicht gerne erzählen würde: wie sein Vater, mein Großvater – ein guter Arbeiter, der beste Arbeiter auf dem Gutshof nahe Troppau –, als Knecht meine Großmutter, die Tochter des Gutsverwalters, nicht hatte heiraten dürfen; und ihm deshalb nur übrig blieb, sie zu schwängern, bevor er eingezogen wurde – und er im Eis der Ostfront erfror. Eine Handvoll Briefe und eine Fotografie von ihm in Uniform rettete meine Großmutter in den Westen, wo sie den Behörden weismachen konnte, verheiratet gewesen zu sein mit dem Vater ihres Sohnes; und sie den neuen Nachbarn weismachen konnte, der Vater ihres
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