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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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dass er mir seine ihm verbleibenden Jahre und das Geld auch gerne noch geschenkt hat, wollte er schreiben, dass dafür Väter da sind, um den Kindern aus der Not zu helfen, dass er mir alles verziehen hat und hofft, auch ich hätte ihm alles verziehen. An den Abenden, bevor er die Arbeit bei der Frau und dem Mann angetreten hat, hat er im Schein der Lampe am Schreibtisch in seinem kleinen Büro gesessen, das linierte Papier vor sich – auf das er Hieroglyphen zeichnet –, hat seine Spiegelung im Fenster betrachtet und an die guten Zeiten versucht zu denken. Draußen liegt die Straße in Dunkelheit, hin und wieder hebt ein Nachbar im Vorbeigehen die Hand zum Gruß, aber mein Vater achtet nicht auf sie, zerknüllt nur das vollgekritzelte Blatt vor sich auf dem Tisch und nimmt ein neues aus der Schublade.
    Er hat die Hälfte des alten Maschendrahts von den Pfosten gelöst, aufgerollt und verschnürt. Rostfarben seine Handflächen, metallenes Glitzern in den Furchen der Handlinien. Die Sonne senkt sich auf die Spitzen der Kiefern, die im Glast wirken wie eine schwarze Wand. Er will noch arbeiten, bis der Mann heimkommt, dann wird er gehen. Er sieht zum Haus, dessen Giebel im Abendlicht leuchtet. Im Innern muss es kühl sein, der große Ventilator im Wohnzimmer, der aussieht wie in amerikanischen Filmen, ist sicherlich eingeschaltet. Der Wind verweht das Haar der Frau, geht sie unter ihm her; sie spürt ein Frösteln auf der Haut – die feucht ist vom Schweiß –, es stellen sich ihr die Härchen an den Armen auf. Und sie genießt den kurzen Schauer wie eine unverhoffte Berührung. Das Haus ist leer und still, sie sieht sich um, horcht hinauf in die erste Etage, wo das Kinderzimmer liegt; an der Wand der bewegte Schatten des Mobiles über dem Bett, angetrieben von der erwärmten aufsteigenden Luft. Sie ist jünger als ihr Mann. Sie verhält sich manchmal wie ein trotziges Kind, ist sie mit ihm zusammen. Dem Mann scheint das zu gefallen, er legt ihr die Hand in den Nacken und spricht leise zu ihr, sie lächelt und nickt. Er ruft sie immer um halb eins am Mittag an, sonst klingelt das Telefon im Haus selten, meistens beendet sie die Gespräche schnell.
    Mein Vater hat vergangene Woche ihre Unterwäsche betrachtet, als sie zum Trocknen draußen hing, und im Vorbeigehen einen Schlüpfer von der Leine genommen, in die Hosentasche gesteckt und später ins Jackett. Er wusste nicht, warum. Vielleicht hat sie ihn dabei beobachtet, er glaubt es nicht. Zu Hause hat er ihn in eine Schublade im Schlafzimmer gelegt und seitdem nicht mehr angerührt. Der Gedanke an ihre Schamlippen, die am Abend eine feine Spur getrockneten Ausflusses in das Muster der weißen Spitze zeichneten, hätte sie ihn getragen, bringt ihn um den Verstand.
    Die Luft riecht würzig vom Rosmarin und Thymian, den er eingepflanzt hat neben der Veranda. Er schließt die Augen und atmet tief. Das Rauschen der Blätter im Wind, der Duft nach Kräutern und Gräsern und Erde, die Stille des nahenden Abends wie ein Teppich über dem Zwitschern der Vögel, und jetzt die Schritte der Frau, die sich ihm nähert, und mein Vater stellt sich vor, er wohnt hier und seine Frau hat gekocht und bittet ihn nun zu Tisch – und natürlich bin auch ich da –, und selbst das Haus verlangt von ihm, seinen rechtmäßigen Platz einzunehmen.
    Wollen Sie nicht Feierabend machen? hört er die Frau sagen.
    Mein Vater öffnet die Augen und sieht sie an: Ja, sagt er.
    Ich kann Sie eben fahren, sagt sie.
    Mein Vater schüttelt den Kopf: Der Bus fährt sowieso, da brauchen wir nicht unnötig Sprit vertun.
    Die Frau legt den Kopf schräg und lächelt, und für Sekunden betrachtet er den Pigmentfleck auf ihrer Iris, bevor er in die Ferne blickt.
    Noch ein, zwei Tage, sagt er: dann haben Sie Ihre Ruhe.
    Entfernt ist ein Motorengeräusch zu hören, das Knirschen von Reifen auf Kies, die Frau wendet sich um und schirmt ihre Augen gegen das Abendlicht ab.
    Das wird mein Mann sein, sagt sie und sieht wieder zu ihm. Mit ihrem leicht vorstehenden Schneidezahn beißt sie sich auf die Unterlippe und lächelt.
    Noch ein, zwei Tage, wiederholt er.
    Sie sagt nichts und wendet sich ab.
    Wer sonst als ihr Mann sollte es denn sein, denkt mein Vater auf dem Weg zum Schuppen. Er wischt das Werkzeug mit einem trockenen Lappen sauber, bevor er es in den Fächern der Werkzeugkiste verstaut. Ihre spitzen Schulterblätter, ihre weiße, von der Sonne leicht gerötete Haut. Ihr Gang unsicher über den unebenen Boden
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