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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden
Autoren: Patrick Findeis
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prasseln sie herab wie ein Schauer. Mein Vater friert, seine Kleider sind nass, er steht auf und springt über den Graben. In den Pfützen auf der Straße spiegelt sich der Himmel wider. Das Grab seiner Mutter wurde ausgehoben. Er hat die Pacht der Grabstelle nicht verlängert nach Ablauf der zwanzig Jahre. Er hat immer gewusst, dass ich mich nicht dafür interessiere, dass ich mich nicht darum kümmern werde. Er hat ihre Beerdigung vor mir verheimlicht, als ich drei war. Er hat sie einfach verschwinden lassen. Dass die Oma im Urlaub sei, sagte er mir, und als ich auf ihr Bild mit dem schwarzen Band um die rechte obere Ecke des Rahmens in der Vitrine neben dem meiner Mutter zeigte, lachte er und fragte, ob ich ein Eis essen gehen wolle. Bis zu ihrem Tod hat sie für mich gesorgt, war er auf der Arbeit. Vielleicht träume ich deshalb manchmal von einer alten Frau, träume ich von meiner Mutter.
    Die Mülltüten, die Verpackungen aus den Schnellrestaurants sind in den Straßengraben gespült oder geweht worden. Mit matschenden Schuhen geht mein Vater die Straße hinab, nach der nächsten Biegung wird er sein Haus sehen können, das groß genug war für uns beide und nicht zu groß für ihn alleine, das er gemeinsam mit meiner Mutter ausgesucht und anbezahlt, aber alleine abbezahlt hatte. Eine Frau auf einem Fahrrad kommt ihm entgegen und grüßt, er grüßt zurück und bemerkt jetzt, als er den Arm senkt, dass er seinen Spazierstock nicht mehr bei sich trägt. Er dreht sich um und blickt zurück. Die Fahrradfahrerin nähert sich der Baumgrenze, dann verschwindet sie im Wald. Mein Vater senkt den Kopf und betrachtet seine Hände. Den Stock habe ich ihm geschenkt vor bald fünfzehn Jahren. Mehrmals schon hat er den Gummipfropfen unten austauschen müssen.
    Leck mich am Arsch, denkt er und geht weiter. Im Haus herrscht Stille. Der Anrufbeantworter blinkt nicht, ich habe keine Nachricht hinterlassen. Auch Post ist keine gekommen. Es ist wie immer, mein Vater denkt, er müsse die Zeit nutzen, solange er das Haus noch besitzt. Aber er wartet nur und wünscht sich in die Zukunft.
    Während mein Vater am Abend mit den Fingern kalte Koteletts vom Vortag mit Brot und Ketchup aß, das UEFA -Cup-Endspiel zwischen Werder Bremen und Schachtjor Donezk verfolgte und in der Nacht alle Stunde aus traumlosem Schlaf schreckte, war ich bei Maria. Dem Mädchen, das sich mein Vater vorgestellt hatte beim Wichsen, das aussah wie meine Mutter. Wir hatten uns zufällig wiedergetroffen. Ich hatte meinem Vater verschwiegen, dass ich mit ihr zusammen war; genauso wie ich ihm meine neue Telefonnummer verschwiegen hatte, nachdem ich umgezogen war – die Stille in der Leitung als Antwort auf mein Hallo genoss, als ich ihn zum ersten Mal anrief –, und er bis zum Schluss zu stolz geblieben war, nach der Nummer zu fragen.
    Maria hatte irgendwann gesagt: Ich hab einen Job in Los Angeles – das ist meine große Chance.
    Und ich hatte geantwortet: Ich komm mit.
    Ich hatte mich als Gründer einer Internetfirma gesehen, der in ein paar Monaten etliche Millionen Dollar verdiente, ich hatte für mich Möglichkeiten gesehen und wiederholt: Ich komm mit.
    Maria hatte gesagt: Ich hab mich gar nicht getraut, dich zu fragen.
    Irgendjemand hatte mir bestimmt gesagt, ich solle das nicht tun, auch wenn sie einen amerikanischen Pass hatte, mich heiraten, ein Kind von mir wollte. Wie ich meine Wohnungstür in München abschloss ein letztes Mal, den Schlüssel abzog und den Bund in der Hand wog, als könne ich so das Gewicht meiner Entscheidung bestimmen, und ihn draußen in eine Mülltonne warf. Diesmal konnte ich nicht zurückkommen, einen Moment lang hatte ich das geglaubt. Ich wusste, was mein Vater denken würde, wie er handeln würde, wem er die Schuld geben würde. Mein Vater saß an jenem Abend, als ich die Tür meiner Münchner Wohnung hinter mir zuzog, mit einer Flasche Bier in der Hand auf der Terrasse, ein Lassiter-Romanheft auf dem Schoß – es war zu dunkel, um zu lesen. Ich fuhr aus der Stadt und bei Obermenzing auf die A 8 , dieselbe Route, die ich jeden vierten Donnerstag im Monat gefahren war, und es fühlte sich an, als wäre ich auf dem Weg zu ihm, und als ich beim Autobahnkreuz Elchingen auf der A 8 blieb und nicht die Ausfahrt nahm auf die A 7 , ließ ich meinen Vater mit gebügeltem Schlafanzug im frisch bezogenen Bett liegen und einschlafen mit der Suite von Bach im Ohr, die ihm meine Mutter auf dem Cello vorgespielt hatte. Ich fuhr in die
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