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Stimme aus der Unterwelt

Stimme aus der Unterwelt

Titel: Stimme aus der Unterwelt
Autoren: Stefan Wolf
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1. Eine seltsame Blinde
     
    Fast zehn Minuten lang hatte er sie
unfreiwillig beobachtet — unfreiwillig deshalb, weil sie in seiner
Blickrichtung saß dann war Tim überzeugt: die blinde, junge Frau dort hinten am
Tisch war gar nicht blind.
    Draußen sauste die sommergrüne Landschaft
vorbei. Hier, im Speisewagen des Alpen-Express, wackelten die Blumen in den
Vasen.
    Klößchen, der einen großen Berg
Schokoeis löffelte, kleckerte soeben aufs Tischtuch.
    „Was ist denn das für eine bescheuerte
Technik bei der Bahn!“ schimpfte er. „Können die Züge nicht ruhiger fahren?
Oder sind die Schienen verbogen?“
    „Wenn du den Eislöffel zu lange im Mund
läßt“, sagte Karl, „könnte das Blech sich verbiegen.“
    Prüfend betrachtete Klößchen den
Löffel.
    „Kein Blech, Karl. Echt Silber. Ich
sollte ihn mitnehmen.“
    „Hier wird nicht geklaut“, fuhr Gaby
dazwischen. „Wir sind keine reisenden Diebe. Außerdem ist es kein Silber.“
    Sie hatte ihr blondes Haar mit einer
blauen Schleife zum Pferdeschwanz gebunden. Die langen, dunklen Wimpern sahen
aus wie getuscht. Was sie natürlich nicht waren. Für ihre Schönheitspflege
benutzte Gaby nur Wasser und Seife.
    „Dreht euch nicht um“, sagte Tim
gedämpft und meinte Gaby und Klößchen, die ihm gegenüber saßen. „Am letzten
Tisch links hockt eine Tussi mit gelbem Blindenband am Ärmel, dunkler Brille
und Blindenstock. Ich glaube, die spielt die Nichtsehende nur. Sehr gut zwar.
Aber wenn sie sich unbeobachtet fühlt, liest sie in der Speisekarte.“
    Karl — neben ihm — senkte den Kopf und
schielte über den Rand seiner Nickelbrille.
    „Vielleicht ist ein Wunder geschehen“,
meinte Klößchen. „Das Wahnsinnsgeschaukel in dieser Eisenbahn geht auch auf die
Augen. Deshalb kann die Dame plötzlich wieder sehen.“
    Gaby seufzte.
    „Hast recht“, flüsterte Karl dem
TKKG-Häuptling zu. „Sie genießt sogar die Landschaft. Aber zum Tisch hat sie
sich hingetastet, als wäre sie umgeben von ewiger Nacht.“
    „Blinde haben Fahrpreisermäßigung“,
sagte Gaby. „Vielleicht ist das der Grund.“
    Tim schüttelte den Kopf. „Dafür genügt
es nicht, die Behinderte zu spielen. Sie braucht auch einen Behindertenausweis.“
    „Was soll’s“, wandte Karl ein. „Die
Frau sieht ganz sympathisch aus. Uns geht sie nichts an.“
    „Uns geht alles an“, sagte Tim — den
man früher Tarzan genannt hat — durch die Zähne, „was nach einer faulen Sache
riecht. Und mit offenen Augen stolpert man — leider — pausenlos über Fäulnis.
Wir werden achten auf das Füchschen.“
    Sie war rothaarig, die Blinde,
fuchsrot, hatte Locken und trug einen gelb-grünen, sehr weiten Sommeranzug. Ihr
Gesicht war zart, die Haut wie Milch und Blut.
    Auf 27 oder 28 Jahre schätzte Tim die
Frau. Die Farbe der Augen konnte er nicht erkennen, wohl aber deren Bewegungen
hinter den dunklen Brillengläsern.
    „Schade, daß mein Oheim nicht dabei ist“,
sagte Klößchen. „Er ist zwar nicht Facharzt für Glotzer, sondern ländlicher
Arzt — äh, Landarzt — , könnte aber sicherlich sofort feststellen, ob jemand
blind ist.“
    „Ich kann dieses Oheim nicht mehr hören“,
knurrte Karl, „warum sagst du nicht Onkel?“
    „Weil mein Oheim wünscht, daß ich ihn
mit Oheim anrede.“
    „Und was der sagt, ist Gesetz?“
    „Mindestens.“ Klößchen unterdrückte
einen Rülpser. „Mein Vater, der weitbeste Schokoladen-Fabrikant, hält ihn für
den unangenehmsten Zeitgenossen seit Dschingis Khan. Dr. Sigismund Holmann sei
ein richtiger Kotzbrocken. Er nörgelt, findet alles mies, kann keinen leiden,
ist rechthaberisch, barsch wie ein preußischer General und unverschämt
außerdem. Daß er Arzt wurde, meint Papa, grenze an ein Wunder. Denn Ärzte
helfen ja anderen Menschen im allgemeinen — sofern sie nicht Spezialisten für
Kunstfehler sind. Der Holmann mit dem schönen Vornamen Sigismund war sogar ein
recht guter Arzt. Aber zu lachen hatten seine Patienten bestimmt nichts.“
    „So schlecht, wie du ihn machst“,
entgegnete Gaby, „kann er gar nicht sein. Immerhin hat er uns eingeladen.
Obwohl er uns genausowenig kennt wie dich. Das kann man großzügig nennen.“
    „Hm“, Klößchen stocherte in seinem
leeren Becher, „tja... ja... hm.“
    Tim sah seinen dicken Budenkameraden
scharf an. „Was heißt das?“
    „Tja“, Klößchen begann vor Verlegenheit
seinen Löffel zu biegen, „ich weiß nicht recht, wie ich euch das erklären soll.“
    „Versuch’s mit
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