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Eisiges Herz

Eisiges Herz

Titel: Eisiges Herz
Autoren: Giles Blunt
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    A uf der Madonna Road kann einfach nichts Schlimmes passieren. Die Straße, die sich am Westufer eines kleinen Sees außerhalb von Algonquin Bay, Ontario, entlangwindet, ist der ideale, von Kiefernduft erfüllte Zufluchtsort für wohlhabende Familien mit kleinen Kindern, Yuppies mit einem Faible für Kanus und Kajaks ebenso wie für ein Völkchen von listigen Streifenhörnchen, die mit den großen Hunden der Anwohner Fangen spielen. Ein Ort, ruhig, schattig, abgelegen – scheinbar wie geschaffen, um sich vor Kummer und Leid in Sicherheit zu wähnen.
    Detective John Cardinal und seine Frau Catherine wohnten im kleinsten Haus auf der Madonna Road, aber selbst diese bescheidene Bleibe konnten sie sich nur leisten, weil das Haus auf der seeabgewandten Straßenseite lag und sie nicht einmal ein Zipfelchen Ufergrundstück besaßen. Die Wochenenden verbrachte Cardinal größtenteils im Keller, inmitten von Gerüchen nach Sägemehl, Farbe und Holzwachs. Bei der Arbeit mit Holz fühlte er sich kreativ und Herr der Lage, was auf dem Revier nur selten vorkam.
    Aber auch wenn er nicht mit Tischlerarbeiten beschäftigt war, genoss er die Stunden in seinem kleinen Haus und die Ruhe des Sees. Es war Herbst, Anfang Oktober, die ruhigste Zeit des Jahres. Die Motorboote und die Jetskis waren an Land gebracht, und die Schneemobile knatterten noch nicht über Eis und Schnee.
    Der Herbst in Algonquin Bay ist wie eine Entschädigung für die anderen drei Jahreszeiten. Ein Farbenmeer aus Rottönen, Ocker und Gold wogt über die Hügel, der Himmel strahlt so tiefblau, dass man den brütend heißen Sommer, denFrühling mit seinen Mückenplagen und den gnadenlos kalten Winter beinahe vergessen kann. Der Trout Lake lag übernatürlich still da, wie schwarzer Onyx umgeben von Glut. Obwohl Cardinal in Algonquin Bay aufgewachsen war (und das alles als selbstverständlich hingenommen hatte) und jetzt seit zwölf Jahren wieder hier lebte, war er jedes Jahr von neuem überrascht über die herbstliche Pracht. Um diese Jahreszeit verbrachte er jede freie Minute zu Hause. An jenem Abend hatte er die viertelstündige Fahrt auf sich genommen, um eine halbe Stunde mit Catherine beim Abendessen zu verbringen, bevor er wieder aufs Revier zurückmusste.
    Catherine steckte sich eine Tablette in den Mund, spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter und verschloss das Tablettenröhrchen wieder.
    »Es ist noch mehr Auflauf da, wenn du möchtest«, sagte sie.
    »Nein, ich hab genug. Das war hervorragend«, sagte Cardinal, während er versuchte, die letzten Erbsen auf seinem Teller aufzuspießen.
    »Es gibt heute keinen Nachtisch, es sei denn, du hast Lust auf Kekse.«
    »Ich hab immer Lust auf Kekse. Die Frage ist nur, ob ich irgendwann von einem Gabelstapler hier rausgewuchtet werden möchte.«
    Catherine brachte ihren Teller und ihr Glas in die Küche.
    »Wann gehst du los?«, rief Cardinal ihr nach.
    »Jetzt gleich. Es ist dunkel, der Mond scheint. Ideale Bedingungen.«
    Cardinal schaute nach draußen. Der Vollmond, eine orangefarbene Scheibe tief über dem See, wurde vom Fensterkreuz gevierteilt.
    »Willst du den Mond fotografieren? Sag bloß, du hast vor, ins Kalendergeschäft einzusteigen.«
    Aber Catherine war bereits im Keller verschwunden, und er hörte, wie sie in ihrer Dunkelkammer herumkramte. Cardinal verstaute die Essensreste im Kühlschrank und räumte das Geschirr in die Spülmaschine.
    Catherine kam aus dem Keller, verschloss ihre Kameratasche, stellte sie neben der Tür ab und zog sich ihre Jacke über, eine goldbraune mit dunkelbraunem Lederbesatz an Ärmeln und Kragen. Sie zog einen Schal vom Kleiderhaken, wickelte ihn sich einmal, zweimal um den Hals, nahm ihn wieder ab.
    »Nein«, murmelte sie vor sich hin. »Der wird mir nur lästig.«
    »Wie lange wirst du unterwegs sein?«, fragte Cardinal, doch seine Frau hörte ihn nicht. Sie waren nun schon seit fast dreißig Jahren verheiratet, und immer noch gab sie ihm Rätsel auf. Manchmal, wenn sie loszog, um zu fotografieren, war sie aufgekratzt und gesprächig und beschrieb ihm ihr Vorhaben in allen Einzelheiten, bis ihm der Kopf schwirrte vor lauter Fachbegriffen wie Brennweite und Öffnungsverhältnis. Manchmal erfuhr er erst etwas über ihr Projekt, wenn sie Tage oder Wochen später aus der Dunkelkammer kam, die Abzüge umklammernd wie eine Safaritrophäe. Diesmal war sie verschlossen.
    »Wann wirst du ungefähr zurück sein?«, fragte Cardinal.
    Catherine schlang sich einen kurzen,
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