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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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nicht mehr viel Zeit, als wäre sie über die Zeit
der Diskussion und des Gesprächs schon hinaus, als wäre sie auch aus
Höflichkeit und Mitleid nicht mehr bereit, überflüssigerweise über die
Wirklichkeit zu streiten, die sie besser, eingehender kannte als jeder andere.
Ich verstand, dass die Schwester alles über ihre Krankheit wusste und dass sie
wirklich sterben würde, bald, spätestens in sechs Monaten. Und sie lamentierte
nicht. Sie bat nicht um Mitleid. Wenn sie überhaupt um etwas bat, dann war es
gerade nur, dass ich mich nicht um überflüssige Teilnahmebekundungen bemühen
sollte. Mutlos und dumm sagte ich, wie es in dieser Situation die meisten
Menschen getan hätten: »Nichts ist sicher.«
    Â»Dies ist gewiss«, sagte sie kurz.
    Sie sprach trocken und abgehackt. Und ich sah die Gestalt der
Sprecherin nicht. Sie stand neben mir, in unmittelbarer Nähe, aber ich musste
mich zur Seite wenden, um sie zu sehen. Sie stützte sich gegen die Wand, mit
verschränkten Armen, und hatte sich während unseres Gesprächs nicht bewegt.
    Â»Ich bin auch gesund geworden«, sagte ich.
    Â»Ja«, sagte sie, »der Maestro ist gesund geworden.«
    Â»Gott hat es so gewollt«, sagte ich mit einer frommen Wendung. Ich
glaubte, ihr damit eine Freude zu bereiten und sie zu trösten.
    Â»Gott?«, sagte sie mit dieser trockenen Stimme. »Ich weiß nicht.«
    Diese Äußerung klang aus dem Mund einer Nonne sonderbar. Ich sah sie
nicht an, ich schaute ins Lampenlicht. Nun war ich vollkommen wach und empfand
eine Nüchternheit, Neugier, ein herzklopfendes Warten, als würde ich jetzt den
Sinn von allem erfahren, was in den vergangenen Monaten in diesem Zimmer
geschehen war. Was hatte diese zum Tode verurteilte Schwester gesagt? Sie
glaube nicht, dass Gott geholfen habe? Wieso stand sie dann hier, an meinem
Bett, so bereitwillig? Ich wandte mich um und sah sie an.
    Lange betrachtete ich das vertraute Gesicht, das ich bisher nie so
gründlich untersucht hatte. Ich wusste nur, dass von den vier Schwestern sie
die Fremde, die Unpersönliche war. Selbst mit der dicken, ruppigen Dolorissa
verband mich mehr als mit diesem traurigen, dünnen, kranken Wesen. Charissima
war diejenige von den vier Schwestern, auf die der Kranke nie achtete; sie
pflegte hervorragend, wie alle, lautlos, unbemerkt. Doch niemals, mit keinem
Wort und keiner Bewegung hatte sie jemals etwas von ihrer verborgenen
Wirklichkeit verraten, die wir Persönlichkeit oder Individuum nennen. Als träte
gar keine Person, sondern eine Art Heilmittel in Funktion, wenn sie das Zimmer
betrat. Und jetzt hatte sie gesprochen, und ihren Worten fehlte jede
Sentimentalität. Auch jetzt redete sie mechanisch und trocken, wie immer in den
vergangenen Monaten, wenn Worte zwischen uns gefallen waren.
    Â»Glauben Sie nicht an Gott?«, fragte ich unvermittelt in
angreifendem Tonfall.
    Â»Ich glaube an Gott«, antwortete sie wie eine Schülerin, die den
Katechismus aufsagt.
    Â»Glauben Sie nicht, dass Gottes Wille heilt?«
    Warum fragte ich das? Es lag etwas Zwanghaftes in diesem Gespräch;
Frage und Antwort folgten unwillkürlich aus der Situation, man konnte nichts
verschweigen. Es war nach Mitternacht, aber ich war nicht müde, sondern eher
erregt und ruhelos. Dies war eine Aufregung wie in den Stunden vor dem Ausbruch
der Krankheit. Die Unruhe knisterte in meinen Armen und Beinen wie das
krankhafte Gefühl des Ameisenkrabbelns. Ruhig erwiderte sie: »Ich weiß nicht,
was Gott will. Ich weiß auch nicht, wann er heilt. Nichts weiß ich.«
    Sie sprach wie eine Traumgestalt. Und ich hörte zu, nüchtern, im
wachen Traum. Sie war so fremd wie eine Erscheinung aus dem Jenseits. Ihr
Gesicht, dieser weiße Fleck, in dem zwei schwarze Strahlen brannten, das war
alles, was ich sah. An der Stelle ihres Mundes die schmale, strenge Linie.
Diese Schwester hatte keine Lippen. War sie überhaupt eine Frau? Eine Nonne,
die sterben würde. Hätte sie gejammert und lamentiert, wäre ich vielleicht
gleichgültig geblieben. Aber diese eiskalte Sachlichkeit erschütterte mich.
    Â»Liebe Schwester«, sagte ich und stammelte vor Verlegenheit, »könnte
ich Ihnen nicht helfen?«
    Â»Nein«, sagte sie kurz. »Niemand kann mir helfen. Auch Sie nicht.«
    Ich richtete mich auf, stützte mich im Kissen hoch, wandte mich ihr
ganz zu. Jetzt sahen wir einander
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