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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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1.
    Dies ist mein Versuch aufzuzeichnen, was ich in jener
eigenartigen Weihnachtsnacht erlebt habe. Wir schrieben damals das dritte
Weihnachten im Zweiten Weltkrieg. * Die Zeit vergeht, und die Tage und Nächte, die auf diesen Weihnachtsabend
folgten, brachten noch viel Leid und Elend über uns. Dennoch blieb mir die
Erinnerung an diese Begegnung im Herzen und im Bewusstsein lebendig. Die
Nachrichten, die von der Zerstörung ganzer Städte kündeten, der Zweifel und die
Beklemmung, die zu dieser Zeit vielen Menschen das Herz mit Sorge um die
Zukunft füllten, all das viele Unglück von übermenschlichem Ausmaß war nicht
grausam und wirkungsvoll genug, um in meinem Bewusstsein die Erinnerung an
diese Begegnung auszulöschen. Was ich erfuhr, offenbarte nicht das Schicksal
von Völkern und Erdteilen, sondern nur das eines einzelnen Menschen. Aber die
Macht des Schicksals kann einen einzelnen Menschen genauso treffen wie ein
ganzes Volk.
    Natürlich war es der Zufall, der diese weihnachtliche Begegnung
arrangierte, wie alle wesentlichen und überraschenden menschlichen Situationen.
Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass im Winter, wenn das Badeörtchen
verlassen ist, in einer billigen Pension im Jagdhausstil ohne jeglichen
zeitgenössischen Komfort, Z. mein Zimmernachbar sein würde. Der berühmte Z.,
der große Musiker, der noch wenige Jahre zuvor in den Konzertsälen der
Weltstädte von einem internationalen Publikum gefeiert worden war. Unsere
Begegnung erschütterte mich zutiefst, denn der Mann, der in dem aus rohem
Kiefernholz gezimmerten Speiseraum der kleinen Pension im siebenbürgischen
Hochgebirge vor mich trat, war nur noch ein Schatten des berühmten Mannes,
dessen Name noch vor nicht allzu langer Zeit einer der ersten in der Welt der
Musik war. Als lebendiger Beweis für die Vergänglichkeit von Ruhm und Ehre
hätte mich seine Erscheinung betroffen gemacht, wenn Z.s Art und Benehmen mich
nicht im Augenblick unserer Begegnung davon überzeugt hätten, dass dieser Mann
sein schweres Schicksal nicht nur mit großer Geisteskraft, sondern auch mit
Ruhe und Heiterkeit trug. Das Unglück hatte ihn weder verletzt noch erniedrigt
oder gebrochen. Er war ruhig geblieben, und dieser Ruhe fehlte jeglicher Trotz;
er spielte nicht den gekränkten Coriolan, den barbarische Kräfte aus seiner
wahren Heimat, der geheimnisvollen Provinz der Musik, vertrieben hatten. Diese
sonderbare Ruhe spiegelte sich in seinem Blick wie der sanfte Strahl eines
inneren Lichtes. Im ersten Augenblick des Wiedersehens schlug er – mit dem
Instinkt des Musikers – einen Ton an, der mich beruhigte und mir sagte, dass
ich hier einem Mann gegenüberstand, der sich seines Schicksals vollkommen
bewusst war und es trug, ohne aufzubegehren, und dass mich nichts dazu
berechtigte, ihn zu bemitleiden. Die ruhige Würde seines Wesens, seine sanfte
und ernste Menschlichkeit beruhigten und zwangen mich zugleich zu einer
unwillkürlichen Zurückhaltung. Ich spürte, dass ich seine Einsamkeit und sein
bescheidenes Verhalten, das jede Anteilnahme zurückwies, achten musste, dass
ich nicht das Recht hatte, sein seelisches Gleichgewicht zu stören, indem ich
ihn aus Höflichkeit bedauerte.
    All das spürte ich bereits im Augenblick unserer Begegnung – aber in
meiner Erinnerung wurde mein Taktgefühl in den folgenden Tagen hart auf die
Probe gestellt. Die Bergpension bot dazu hervorragend Gelegenheit: Morgens,
mittags und abends trafen wir uns in dem einzigen Gemeinschaftsraum, dem
tannenduftenden Speisezimmer, am Bauernofen, wo sich die wenigen Gäste im nicht
gerade blendenden Lichtkegel der Petroleumlampe um den runden Tisch einfanden,
um mit Lesen, Kartenspielen, Gesprächen und Quälen des batteriebetriebenen
Radios die Zeit totzuschlagen. Denn die sonderbare Größe Zeit erwies sich hier
auf dem Gipfel des Berges als gefährlicher Gegner: Seit Tagen ging ein starker
Schneeregen nieder, und jetzt, Mitte Dezember, hatte in den Bergen die
Schneeschmelze eingesetzt, und mächtige, schmutzig graue Schneelawinen rollten
ins Tal. An einen Spaziergang war nicht zu denken. Aus dem Dorf, das am Bach
des Tales errichtet und noch mehrere Stunden Fahrt von der nächsten Bahnstation
entfernt war, erklomm jeden Mittag ein belustigend zotteliges, gedrungenes
Pferdchen mit Wagen, geführt von einem verschlafenen rumänischen Hirten, den
rutschigen,
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