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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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lebensgefährlichen Weg und brachte die Post, das Fleisch und alles,
was in der Speisekammer der Pension gerade fehlte. Der nasse Nebel bedeckte die
Berggipfel wie eine erstickende Rauchwolke nach einer Feuersbrunst oder einem
Bombenangriff die Wolkenkratzer einer Großstadt. In den Zimmern hatte sich die
Nässe eingenistet, die Bettwäsche, die Handtücher, ja die Kleidungsstücke in
den Schränken hatten den schmutzigen Nebel in sich aufgesaugt – die Gäste
flohen schon in den frühen Morgenstunden aus ihren engen und unbequemen Stuben,
in denen sie nur die allernötigste Zeit verbrachten: bei Kerzenlicht im
Finstern arbeitend, auf klammen Betten bibbernd, in blechernen Eimern sich
waschend. Durch Berg und Tal brauste ein warmer Wind, der Schirokko . Das Thermometer zeigte um die Mittagszeit manchmal acht
Grad plus – ein aberwitziges Wetter hier in den Bergen, im Dezember! All das,
was wir, die in der kleinen Gebirgspension gestrandet waren, uns vorgestellt
hatten, als wir uns aus unseren städtischen Behausungen auf den Weg gemacht
hatten – eisig funkelnde Gipfel im kalten Sonnenschein, Ultraviolettstrahlung
auf verschneiten Feldern, prächtige Spaziergänge im knirschenden Schnee in
tausendfünfhundert Meter Höhe unter duftenden, mit Schnee gezuckerten
Weihnachtsbäumen in dichten Nadelwäldern, und dann friedliche und ruhige
Abendstunden im Gesellschaftsraum der Pension, dessen vertraute Einsamkeit das
Foto im Reisebüro so verführerisch darbot! –, all das erwies sich in
Wirklichkeit als nervenzermürbende, erbärmliche und ungesunde
Zeitverschwendung. Die Arbeit, die ich mir mitgebracht hatte, ruhte am Boden
meines Koffers, denn weder in meinem Zimmer, das einer Zuchthauszelle ähnelte,
noch in dem Gesellschafts- und Speiseraum konnte ich in Ruhe meine
Aufzeichnungen ausbreiten. Den größten Teil der Bücher, eingepackt als
geistiger Proviant, hatte ich in den ersten vier Tagen dieses erzwungenen
Stubenarrestes verzehrt, und wie Noahs Reisegefährten in der Arche drängten wir
uns nun von früh bis spät in dem warmen, stickigen, vom Menschen- und
Speisengeruch dunstigen Gesellschaftsraum, aßen vor Langeweile überflüssig viel
und spülten die fettigen Speisen mit einem sauren, kratzenden Wein hinunter. Zu
den Bewohnern der Arche gehörten natürlich auch vierbeinige Lebewesen: ein
struppiger, alter Hirtenhund, eine schmarotzerhafte Katze mit ihren Jungen, ein
Eichelhäher in einem Käfig am Ofen, ein Eichhörnchen, das in seinem Käfig wie
wahnsinnig das Laufrad trat, eine wahre Schar von Haustieren belebte unsere
Gemeinschaft; mit der natürlichen Vertraulichkeit von Lebewesen, die
aufeinander angewiesen sind, steckte von Zeit zu Zeit sogar ein alter
Ziegenbock seine bärtige Visage zum Türspalt herein. Der überhebliche
Alterspräsident aller Haustiere der kleinen Siedlung stand blinzelnd und mit
zitterndem Ziegenbart in der Türöffnung, als erinnerte er sich noch an die
paradiesische Idylle des Zusammenlebens von Mensch und Tier und wartete auf die
Aufforderung, seinen Platz in unserem Kreis einzunehmen. Doch dieses wenig
erfreulich duftende Tier verjagten sogar die Hausbesitzer.
    So lebten wir Zweifüßler zu siebt in der Arche und warteten auf das
Ende des Regens und die ersten Sonnenstrahlen. Sieben Gäste, der Hausbesitzer
und seine Frau – Rumänen aus dem Altreich, ein gutmütiges und hilfsbereites
Paar, korpulent und schwerfällig, des Ungarischen nur gebrochen mächtig – und
das Personal: zwei junge Mädchen und ein Hirte aus dem Tal, der im Winter das
Amt des Hausdieners der Hütte bekleidete. Denn in Wirklichkeit war dieses
»Kurhotel im Hochgebirge« nur eine einfache Hütte; von all dem, was in der
verlockenden Anzeige beschrieben war, entsprachen nur das Gebirge und die
Landschaft den Verheißungen. Und jetzt war auch diese Wirklichkeit vom Nebel
verhüllt und vom Schneeregen aufgeweicht. Nur bei kaltem, klarem Winterwetter
beschenkte diese Landschaft den Wanderer tatsächlich. Sogar durch den Nebel
hindurch waren der frische Geschmack und Duft der Luft zu spüren. Aber drinnen
im Zimmer, im Elend dieser Quarantäne, waren schon am vierten Tag all mein
guter Wille und meine Geduld aufgebraucht. Mit Tieren und Menschen in einem
stallartigen Raum zusammengesperrt, wo es nicht einmal für den traurigen Luxus
der Einsamkeit reichte,
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