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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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in der stickigen Zimmerluft, mit dem trostlosen Anblick
des feuchten und matschigen Geländes vor dem Fenster: all das war ein
spöttischer Beweis dafür, wie aussichtslos die Unternehmungen und Pläne des
Menschen in Wirklichkeit sind. Die stille Woche, die ich gehofft hatte auf dem
Berggipfel verbringen zu können, die feierliche »Weihnachtswoche im
Hochgebirge«, wie ich sie mir in meinem städtischen Heimweh vorgestellt hatte,
schien mir jetzt eher eine Strafe zu sein als eine Belohnung – eine Strafe, die
abgesessen werden musste.
    Was tut der Gefangene, wenn er sein Schicksal erkennt und die
Aussichtslosigkeit seiner Lage hervortritt? Er zerbricht sich natürlich den
Kopf über Flucht. Drei Tage waren eine lange Zeit, in der ich jede
menschenmögliche Gelegenheit meiner Umgebung erkunden konnte. Nicht einmal alte
Ehepaare lebten in so zwanghafter körperlicher Vertrautheit wie wir, die
wildfremden Gäste der Bergpension. Durch die dünnen Bretterwände war jeder
Atemzug der Nachbarn zu hören, die sich ebenfalls langweilten, im
Gemeinschaftsraum verrieten wir vor Monotonie und Ungeduld schon am dritten Tag
unweigerlich die verdrießlichen Züge unserer Natur. Die Gesellschaft versprach
keine besonderen menschlichen Überraschungen. Ein grau melierter Herr in
Tiroler Kniehosen und kurzer Lederjoppe, von dem wir nur wussten, dass er
Beamter in einer nahen Stadt war, klebte den lieben langen Tag Fotografien in
ein Album mit Lederdeckel – seine Bewegungen, seine schnaubenden Bemerkungen,
seine argwöhnischen und zornigen Blicke vermittelten das Bild eines besessenen
und unsicheren Menschen. Und siehe da, das war er auch, einer der zahllosen
städtischen Nervenkranken, die sich in ihren Bürokäfigen Zwangsbilder von der
Natur erschaffen, ein Pflanzenfresser und Tourist, der sonntags mit seinem
Rucksack die Berge durchstreift und alle Berggipfel und Lichtungen, die ihm
über den Weg stolpern, mit ängstlicher Sorge abfotografiert. Mit einem Wort,
ein Verrückter. Einen netten Gegensatz zu diesem kodakbewaffneten Don Quichotte
der Berge bildete ein joviales Jägerpaar, zwei Pálinka und Wein trinkende,
Shagpfeifen rauchende Gutsverwalter oder bessere Inspektoren, die hier auf dem
Berggipfel Auerhähne suchten; ihre Jagdsäcke und Waffen, die sie tagein, tagaus
fetteten und reinigten, hatten sie stets bei der Hand, auch wenn sie becherten.
Diese beiden Jäger – eine lebendige Ausgabe von Stan und Ollie: einer baumlang
und dürr, der andere gedrungen und fett – waren der klare Beweis für die These,
dass die Natur überall und immer, so auch in menschlichen Beziehungen, auf den
Ausgleich der Gegensätze bedacht ist. Die dramatischen Wetterumschläge nahmen
sie mit dem Gleichmut der an die Launen der Natur gewöhnten Menschen hin. Sie
begehrten nicht auf, sondern lasen alte Theaterzeitschriften, sprachen
beständig dem Wacholderschnaps zu, traten von Zeit zu Zeit ans Fenster,
stellten fachmännisch fest, dass das »Mistwetter« die Auerhähne hartnäckig vor
ihnen verbarg, und schworen dem Wild, das sich unter der Nebelkappe des
Schneeregens versteckte, unter halb verschluckten Jägerflüchen fürchterliche
Rache. Diese beiden Nimrods, gleichsam eingehüllt in den Geruch von Pálinka und
Shag, waren jedoch alles in allem eher sympathisch. Sie benahmen sich
bescheiden und jovial und ertrugen die Strapazen des gemeinsamen Schicksals mit
männlicher Geduld. Anders das Ehepaar, das in dem einzigen Balkonzimmer der
Pension Quartier genommen hatte.
    Sie waren nur selten zusammen zu sehen. Wie die Figuren aus dem
Wetterhäuschen erschien einmal der Herr, ein anderes Mal die Dame im
Gesellschaftsraum; der jeweils andere blieb dann im Balkonzimmer – dem Zimmer,
das den Vorzugsgästen des Hotels vorbehalten blieb. Am fünften Tag der
Gebirgsquarantäne hatte ich unter unerwarteten und traurigen Bedingungen
Gelegenheit, einen Blick in dieses Zimmer zu werfen: ausgewählte städtische
Möbel in russischem Adelsstil, ein Doppelbett, ein spiegelbesetzter Schrank,
Spuren eines gewissen östlichen, bunten Luxus mischten sich hier; das Zimmer
bewohnte das Wirtspaar aus dem rumänischen Altreich selbst, nur in Ausnahmen
überließ es den Raum vornehmeren Gästen. Das Paar, das das Balkonzimmer jetzt
belegt hatte, war einen Tag nach mir angereist. Sie kamen mit dem Automobil,
das sie am Bahnhof
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