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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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Niedergeschlagenheit ein wenig. Am
Abend vor Weihnachten machten wir, Gäste und Hausbewohner, uns daran, den Baum
mit Lebkuchen, Äpfeln und vergoldeten Nüssen zu schmücken, die Jäger sprachen
ihrem Wacholderpálinka zu und unterhielten sich und die Gäste mit schelmischen
Anekdoten, und der rumänische Gastwirt beteuerte, dass uns gewisse Wetterzeichen,
die »niemals lügen«, eine Überraschung und weiße Weihnachten versprachen. Die
Überraschung blieb an diesem Weihnachtsfest für die Gäste der Pension
wahrhaftig nicht aus – vermutlich geschah nicht alles ganz so, wie es sich die
Natur und dieser montane Fachmann der Gastbetreuung vorgestellt hatten, aber
eine Überraschung war es auf jeden Fall, und zwar eine weitreichende und
gründliche.
    Ich blieb also; und jetzt, da ich mich dazu entschlossen hatte,
versuchte ich mich in Tonfall und Stimmung der kleinen Gesellschaft anzupassen,
ich becherte mit den Jägern, erkundigte mich nach dem Gedenkbuch des grau
melierten Herrn, der vom Fotografierzwang gepeinigt wurde, band rote Äpfel an
den kerzengeraden Baum und hörte mir die wortreichen Pläne des Gastwirts und
seiner Frau an, natürlich träumten sie von Zentralheizung und einem Gasthaus
aus Beton mit einer Sonnenterrasse und »Danßing« – so sagten sie –, wo in
besseren Zeiten die bergbegeisterten Großstadtpaare bei rotem Licht tanzen
würden. Das Paar aus dem prunkvollen Zimmer und Z. fehlten. Am Abend erfuhr
ich, dass Z. bereits den dritten Monat auf dem Berggipfel lebte – die Gastwirte
sprachen mit großer Verehrung vom »Professor«, dessen Fach sie aber nicht
kannten; sie hielten ihn jedenfalls für einen Schriftsteller oder Gelehrten und
erzählten mitteilsam, er sei ein sehr »feiner Mann«, der »immer schweigt« und
»die Musik nicht mag«. Diese Feststellung überraschte mich ein wenig, gerade im
Zusammenhang mit Z., der in der Welt der Musik noch immer zu den Ersten gehörte,
aber natürlich hütete ich mich, den Hausbewohnern und Gelegenheitsgästen Z.s
Geheimnis zu enthüllen. Er hatte gewiss einen triftigen Grund, inkognito hier
im Gebirge zu leben – einen Grund, sie nicht die Wahrheit erfahren zu lassen,
nämlich, dass er einer der großartigsten Musiker auf Erden war. Jedenfalls war
er zumindest einer der berühmtesten Instrumentalisten der Welt gewesen, selbst
in der jüngsten Vergangenheit – und jetzt, als ich beim
Weihnachtsbaumschmücken, beim Anbinden von Lebkuchen hören musste, dass dieser
ungewöhnliche Gast schon den dritten Monat hier oben auf dem Berg weilte, dass
ihn weder die Widrigkeit des Wetters noch die Primitivität der Unterbringung
störten, dachte ich darüber nach, was ich eigentlich über diesen außerordentlichen
Menschen wusste. Unsere Begegnung im Gebirgshotel war linkisch gewesen. Wir
kannten uns, obwohl es acht, ja zehn Jahre her war, dass wir uns in derselben
Gesellschaft öfter getroffen hatten, im Salon einer Dame von großer Bildung, wo
Z. – dessen Name in jenem Jahr in der Öffentlichkeit bekannt geworden war –
manchmal etwas auf dem Klavier vortrug. Ich erinnerte mich verschwommen, dass
die Flüsterpresse den Namen dieser sehr gebildeten und außergewöhnlich
vornehmen Dame mit dem Namen des berühmten Komponisten und Klaviervirtuosen
verband – aber jene Erinnerung war als Gesellschaftsklatsch durch das Sieb der
Zeit gerieselt. Diesen Zusammenkünften, deren geistigen und gesellschaftlichen
Wert man schwer leugnen konnte, war ich bald ferngeblieben, meine Arbeit rief
mich, die Jahre gingen auch mit mir nicht immer nachsichtig um, für das
gesellschaftliche Leben blieben mir immer weniger Zeit und Lust. Weniger seine
Person als vielmehr der Begriff, für den Z. stand und der immer mehr
begeisterte Anhänger und Wortführer fand, beschäftigte mich weiter. Lange Jahre
waren ohne ein persönliches Treffen vergangen, aber kein Monat war verstrichen,
ohne dass mich die Zeitungen, die Zeitschriften und der mündliche Klatsch und
Tratsch, der lebendiger und wirkungsvoller ist als jede gedruckte Meinung, der
Person und Werk eines schaffenden Menschen stets umgibt und ins Bewusstsein der
Zeitgenossen dringt, darauf aufmerksam gemacht hätten, dass es Z. gab, dass er
schuf und arbeitete und dass bereits die gesamte gebildete Menschheit weit über
die Landesgrenzen hinaus
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