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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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auch im Lauf der Jahre voneinander entfernt, so viel glaubte ich doch
von Z.s seelischer Verfassung und Natur zu wissen –, sind natürlich nur dann so
geduldig und bescheiden, wenn eine große seelische Erschütterung alle ihre
Ansprüche an die Welt abgestumpft hat. Bei unserer Begegnung grüßte er mich mit
natürlicher Freundlichkeit, drückte mir lange die Hand, erkundigte sich mit
einigen höflichen und gutmütigen Worten nach der Dauer meines Aufenthalts und
tröstete mich gütig wegen des ungünstigen Wetters, das uns alle betraf – all
das sagte er mit dem Takt eines Mannes von Welt und eines großen Künstlers, mit
der feinen Gleichgültigkeit, mit der jemand in einer unerwarteten Situation
zugleich grüßt und zurückweist, als wollte er sagen: »Wir sind uns begegnet,
ich kenne dich, aber frage nichts. Helfen wir einander, mit gutem Benehmen und
Schweigen.« Selbstverständlich geschah es auch in den folgenden Tagen so: Ich
achtete Z.s freundliche Einsamkeit, und einige gleichgültige, höfliche Worte
waren alles, was wir während der Mahlzeiten wechselten. Zu einem Gespräch kam
es nicht, bis in das Leben in der Bergpension am fünften Tag eine Veränderung
trat, die auch Z. die Notwendigkeit zum Gespräch sehen ließ. Und da sparte er
nicht mit Worten. Die Erinnerung an dieses Gespräch möchte ich auf diesen
Seiten treu aufzeichnen.
    Am Abend des Vortags war auch ich früh auf mein Zimmer gegangen; ich
verstand Z.s plötzlich ausgebrochenen Musikhass, denn die Nimrods konnten –
dank der Wirkung des im Tal gebrannten Wacholderpálinkas – nicht genug bekommen
von dem dünnen Gebräu der »Unterhaltungsmusik«, die aus dem Radio rieselte,
also improvisierten sie eine Art Chorlied und wiederholten auf diese Weise die
modische Großstadteinlage, die ich an jenem Abend zum ersten Mal gehört hatte.
Das erfolgstrunkene Geträller stammte, wie ich von den Jägern erfuhr, aus einem
Singspiel jenes Jahres; und schon verabschiedete ich mich von meinen
weihnachtlichen Schicksalskameraden, ging die Treppe hoch und tappte im Dunkeln
zu meinem Zimmer, während der Gesang des kleineren, dicken Nimrod hinter mir
herposaunte. Er repetierte:
    Â 
    Zur Liebe braucht man keine Schönheit,
    Zur Liebe braucht man keinen Geist,
    Zur Liebe braucht man gar nichts weiter,
    Nur die Liebe, die muss sein.
    Â 
    Ich blieb im Dunkeln stehen und musste lachen. Das war die
korrekte Fassung. Das Holzhaus tönte von dieser melodischen Gossenweisheit. Ich
ging am Balkonzimmer und an der Tür zu Z.s Zelle vorbei, hörte aber keinerlei
Geräusch. In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich auf den Rand des klammen
Bettes und dachte über die erstaunlichen Fügungen des Lebens nach. In der
Nachbarschaft, einige Bretterwände weiter, wachte oder schlief ein Mann, dessen
zauberhafter Anschlag vor Kurzem noch eine ganze Welt betört hatte und der so
geheimnisvoll von der Bildfläche der Öffentlichkeit verschwunden war, als hätte
ihn der rätselhafte Mechanismus einer unterweltlichen Versenkung in einer
anderen Welt versteckt. Ich hatte eine unruhige Nacht. Meine Gedanken kreisten
um Z., das menschliche Schicksal, das Weihnachtsfest und die schweren,
erbarmungslosen Gesetze des Krieges, die uns alle betrafen. So schlief ich ein,
und noch im Halbschlaf hörte ich aus der Ferne die heisere, überzeugende
Aussage der ausgelassenen Jäger:
    Â 
    Zur Liebe braucht man keine Schönheit …
    Â 
    Am Morgen regnete es. Herrgott, wie es regnete! Der rumänische
Gastwirt zeigte beim Frühstück mit der verzagten Handbewegung eines
durchgeweichten Jahrmarktgauklers auf den trostlosen Anblick der nassen
Tragödie, die sich hinter dem Fenster abspielte. Nein, solch ein Weihnachten
habe auch er hier auf dem Berg noch nicht erlebt – sagte er aufrichtig klagend
–, es sei doch offensichtlich, dass das Wetter mit dem Krieg zusammenhänge.
Nichts sei mehr an seinem Platz, Weihnachten sei nicht mehr das verschneite,
glänzende Fest von früher, als Menschheit und Natur noch in Harmonie lebten,
und der Sommer spiele verrückt und sei launisch wie eine Schwangere. Der Krieg!
– klagte er verzweifelt, als wären Berge, Wolken und Wind heimliche Verbündete
der Kriegsmächte. Dann sagte er etwas über die Bombardierungen und über das
Radio. Und tatsächlich wurde zu dieser
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