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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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musste ich erfahren, dass das Material meines Handwerks, das
Wort, kein so unbedingtes Zubehör menschlicher Berührungen war, wie die
Schriftsteller manchmal in ihrem verblendeten Hochmut glauben; in
Krisenaugenblicken verstehen die Menschen auch ohne Worte oder mit nur sehr
wenigen Worten das Wesentliche. Im Gänsemarsch schritten wir die knarrende
Treppe hinauf, voran Z., ruhig, selbstbewusst und sonderbar überlegen, als wäre
er, der Künstler, allein berufen, im Durcheinander der menschlichen Herde
vorübergehend Ordnung zu schaffen; unmittelbar hinter ihm der Gastwirt, der im
stummen Entsetzen vorerst nur stöhnte und sich räusperte, die beiden Jäger, ich
und zum Schluss der Herr, der die Fotografien mehr als alles andere mochte.
Kein Wort wurde gesprochen, keine Frage gestellt. Alle Mitglieder der kleinen
Gruppe hatten den wahren Sinn von Z.s Worten vollkommen verstanden. Ohne zu
fragen, wussten wir, dass den Bewohnern des Prachtzimmers ein verhängnisvolles
Unglück widerfahren war, aber dass »einer noch lebte«; und eigenartigerweise
überraschte diese unheilvolle Ankündigung niemanden. Als hätten wir seit Tagen
auf diese Nachricht gewartet, als wäre es das Natürlichste der Welt, als hätte
es gar nicht anders geschehen können, als hätten wir uns eigentlich im
Schneeregen auf dem Berggipfel versammelt und pökeln lassen, damit diese
Tragödie eintreten konnte und wir Zeugen dieses verhängnisvollen Augenblicks
sein konnten. Im Bewusstsein dieser stummen Komplizenschaft stiegen wir die
Treppen hinauf. Später, als ich an diese Szene zurückdachte, schien mir in der
Reihe der widrigen und traurigen Bilder die Erinnerung an dieses wortlose
Hinziehen eine geheimnisvolle, unerklärliche und dennoch sehr natürliche
Erscheinung zu sein. Das Warten in der Ahnung des baldigen Geschehens löst bei
den Menschen in ihrem Staunen und Schaudern eine viel größere seelische
Spannung aus als das »Ereignis« selbst, das dann aus dieser gemeinsam erlebten
Szene unumgänglich folgt. Die Wirklichkeit ist hier, gleich werden wir sie
sehen, dachten wir und schwiegen. Niemand schnappte nach Luft, niemand rätselte
über die Umstände der Tragödie. Und ich glaube, ich irre nicht in der Annahme,
dass auch meine Gefährten in diesem Augenblick jene sonderbare Erleichterung
durchdrang, die ich spürte. Entsetzen und Erleichterung, als wäre jetzt endlich
alles sinnvoll, was bisher geschehen war. Als wären wir ein Bündnis
eingegangen, damit dieser Moment Wirklichkeit werden konnte. Sowohl nachher als
auch vorher habe ich dies bemerkt, diese schuldbewusste Komplizenschaft
zwischen Menschen im Augenblick großer Gefahren.
    Z. blieb vor der Tür des Balkonzimmers stehen. Er beugte sich zur
Klinke herab und horchte. Wir hörten nichts. Aber genau da verstanden wir alle,
dass Z. Geräusche anders hörte als wir anderen – ja, er hatte ein anderes
»Gehör« als die Musik liebenden Jäger. Wo wir mit unseren Holzohren keinerlei
Geräusch wahrnahmen, hörte Z. mit seinem sensiblen Hörsinn sogar durch Tür und
Wand das pianissimo des Todesröchelns. Mit der
vollkommenen Ruhe und dem sachlichen Interesse eines Fachmanns stand er etwas
gebeugt vor der Tür, ungefähr so, wie sich ein Dirigent in die Tiefe beugen
kann, über das Orchester, und auf den fernen Klang eines leisen Instrumentes
lauscht. Das leise Instrument war in diesem Augenblick ein Mensch, der starb.
Lange Zeit verging so, vielleicht Minuten. Dann richtete sich Z. aus seiner
gekrümmten Stellung auf. Seine Augen glänzten – diese sonderbaren Augen mit dem
trüben Licht, über deren Iris wie ein feiner Star ein Schleier lag, und die
immer anderswohin zu sehen schienen, in eine andere Welt, wo sich das Sein
nicht in Gestalt von Gegenständen und Formen, sondern von Tönen und
musikalischen Gebilden äußerte; dieses fürchterliche Augenpaar mit dem
bezaubernden Strahlen leuchtete jetzt triumphierend. »Ich habe es schon vor
einer Stunde gehört. Ich dachte, sie schlafen. Aber sie schlafen nicht. Einer
lebt noch«, sagte er laut und energisch. Und wie ein Arzt, der eine Krankheit
zweifelsfrei diagnostiziert und damit seine Pflicht erfüllt hat, trat er
beiseite, ließ den Gastwirt in die Nähe der Klinke und wartete mit verschränkten
Armen reglos, dass wir in unserer Verlegenheit und unserer
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