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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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Zeit oft gemeint, dass die großen
Explosionen, die künstlichen Blitzwellen die Ordnung der Natur
durcheinandergebracht hätten. Ich trat ans Fenster und betrachtete die
Landschaft, die von schmutzigen, feuchten Laken überzogen war. An den eitlen
und plumpen Hochmut des Menschen dachte ich, wie er zu glauben wagte, dass die
schmutzigen Geschäfte seiner blutigen Hände eine Auswirkung auch auf die
Gesetze der unendlichen Welt haben könnten. Nein, wahrscheinlicher ist es, dass
der Mensch nur das Opfer der Weltenkräfte sei – überlegte ich – und die
kosmischen Strahlungen, die in der Welt der Natur Jahreszeiten
durcheinanderbringen, auch in der menschlichen Natur Erregung hervorrufen.
Daran glaubte ich irgendwie, wenn ich es auch nicht erklären konnte, darauf
vertraute ich eifrig und war bemüht, die Verantwortung für diese riesigen
Ereignisse auf die Weltenkräfte abzuwälzen, als müsste ich beim Jüngsten
Gericht Antwort und Verteidigung auf die schrecklichen Anklagen stammeln, die
gegen die menschliche Rasse und ihre Selbstvernichtung erhoben wurden. Der
Mensch ist Spielzeug von Kräften und Absichten, deren wahre Natur wir nicht
kennen, Marionette von Leidenschaften, die über das Spektrum des menschlichen
Verstandes hinausflimmern, so brütete ich vor mich hin. Aber der Anblick des
weihnachtlichen Wolkenbruches drückte mich nieder. Es regnete, als ginge eine
neue Sintflut auf die sündige Welt hernieder. Der Bergbach, der sonst vor dem
Hotel rieselte, stürzte nun als grau schäumender Strom ins Tal hinab und wälzte
schmutzige, geschmolzene Schneefelsen über die Steilhänge seiner gewundenen
Bahn. Die Bäume dampften in Nebel und Regen, und der rumänische Gastwirt machte
sich ernsthafte Sorgen, ob das mürrische Pferdchen es an diesem Tag schaffen
würde, den Wagen heraufzuziehen, der mit Lebensmitteln für das Weihnachtsessen
bepackt war. Mehrere von den Bewohnern des Hotels hatten sich bereits in der
frühen Vormittagsstunde an den Tischen des gemeinsamen Gesellschaftsraumes
versammelt, aber die Stimmung war an diesem Morgen allgemein eisig. Was zu viel
ist, ist zu viel, sagte düster der schlaksige Nimrod und stellte seine Waffe,
an der es nichts mehr zu ölen und zu pflegen gab, mit einer unwilligen Bewegung
in die Ecke; das Batterieradio funktionierte an diesem Tag auch nicht,
wahrscheinlich hatte das außergewöhnliche Wetter Luftraumstörungen verursacht,
die verhinderten, dass es von einer weiteren Großstadt Kunde gab, der die
Gedärme heraushingen, oder von der Existenz einer Liebe, für die man nichts
brauchte als einfach nur Liebe. Ich stand mit verschränkten Armen am Fenster
und spürte durchs Halbdunkel des stickigen Zimmers hindurch im finsteren
Schweigen meiner Gefährten die Wut, die jene vom Schicksal gezeichneten
Menschen selbst in ihrer ohnmächtigen Stille in die Welt hinausschrien. Das
Schicksal, dieses weihnachtliche Allerweltsschicksal, war jetzt beinahe
lächerlich, auf alle Fälle aber feucht, nass und langweilig. Aber das Schicksal
zeigt sich manchmal auch unter lächerlichen Bedingungen – das spürten wir alle,
die wir gleichsam eingepökelt waren in der herben schlechten Laune dieser
klammen Situation. In Augenblicken wie diesem beginnen Matrosen auf Schiffen zu
revoltieren – und irgendwie überraschte mich nicht, was dann geschah.
    Z. öffnete die Tür und trat in den Raum. Er kam vom Flur, der in die
bewohnten Zimmer führte; mit einer raschen Bewegung drückte er energisch die
Klinke hinunter, trat beinahe lautlos herein und blieb auf der Schwelle stehen.
Barhäuptig verharrte er eine Zeit lang ruhig und reglos, aus halb
zusammengekniffenen Augen suchte er im Rauch und im Halbdunkel jemanden, dann
erkannte er den Gastwirt, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Kommen Sie«, sagte er einfach und ruhig. Und als sich der Gastwirt, überrascht
und verlegen, nicht rührte, äußerte er ruhig und gefasst: »Einer lebt noch.«
Eigenartigerweise brauchte er diese Worte nicht zu erklären, alle, die wir im
Zimmer herumsaßen, verstanden sie richtig. Als hätten wir seit Tagen
diskutiert, was Z. jetzt aussprach. Wir standen auf und gingen stumm und ohne
zu fragen die dunklen Treppen hinauf ins Obergeschoss, Z. und dem Gastwirt
hinterher. Diese stumme Folgsamkeit und Zustimmung wirkten etwas schaurig.
Wieder einmal
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