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Bin Ich Schon Erleuchtet

Bin Ich Schon Erleuchtet

Titel: Bin Ich Schon Erleuchtet
Autoren: Suzanne Morrison
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1.
    Indrasana
    … und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, daß sie nicht nur in Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind.
    Leo Tolstoi, Anna Karenina
    Heute hat mich eine Yoga-Lehrerin, die wie eine Kreuzung aus Telefonsexdame und Poetry-Slam-Teilnehmerin redete, ganz aus der Fassung gebracht. Am Anfang der Stunde sollten wir uns vorstellen, dass wir auf einer Wolke schweben. Originalton: »Ihr ööö-ffnet euer Herz dieser Wolke, ihr schwebt, ihr erblüht und stimmt euch ein, ihr schwindet dahin, yeah, ihr schwindet dahin.«
    Ich zog kurz in Erwägung, der Lehrerin den Yoga-Finger zu zeigen und mich zu verdrücken. Ich praktiziere jetzt seit gut zehn Jahren Yoga und bin mit vierunddreißig zu alt für diesen erleuchteten Schwachsinn. Für mich klingt »auf einer Wolke schweben« nicht gerade nach einer angenehmen spirituellen Erfahrung, sondern nach dem, was du zu erleben glaubst, wenn du im LSD-Rausch aus dem Flugzeug fällst. Aber ich blendete ihre honigsüße, tiefenentspannte Stimme aus und meditierte kurz darauf tatsächlich. Natürlich darüber, wie ich dieser Yoga-Lehrerin eins über die Rübe gebe, aber immerhin.
    Am Ende des Kurses sollten wir in ihren Gesang einstimmen: gate, gate, paragate, parasamgate  … Das, erklärte sie uns ohne dieses Yoga-Gesäusel in der Stimme, bedeute: gegangen, gegangen, weiter gegangen, ins Verborgene gegangen . Sie war jung, eine echte kleine Zuckerschnecke in ihrem schwarzgrauen Outfit. Ungefähr fünfundzwanzig. Vielleicht auch jünger. Ihre Großmutter sei kürzlich gestorben, erzählte sie, und sie hätte gerne, dass wir für sie und all die lieben Menschen chanten, die schon von uns gegangen sind. In diesem Moment verzieh ich ihr alles, ich hätte ihr am liebsten den Pullover zugeknöpft und eine Tasse Kakao gekocht. Ich sang gegangen, gegangen, weiter gegangen für ihre Lieben und für meine und für die Fünfundzwanzigjährige, die ich einmal war.
     
    Als ich fünfundzwanzig wurde, lag der 11. September gerade gut einen Monat zurück, und man hörte immer und überall von Menschen, die von uns gegangen waren. Ich hatte drei Jobs, weil ich für meinen Umzug von Seattle nach New York sparte, und ganz gleich, wo ich war, in der Anwaltskanzlei, im Pub oder bei meinen Großeltern, um deren Rechnungen ich mich kümmerte – immer liefen die Nachrichten und immer waren sie schlecht. So viele Leute suchten nach den Überresten der Menschen, die sie liebten. So viele Bilder von Flugzeugen, die in Türme krachen, von Rauch und Asche.
    Vorher hatte ich nie wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Ich dachte, ich hätte das alles mit siebzehn für mich geklärt. Da war ich nämlich zu dem Schluss gekommen, dass man, solange man authentisch lebt, ohne Angst und Bedauern stirbt. Als Teenager schien mir alles so einfach: Wenn ich so lebte, wie mein authentisches Selbst es verlangte, dann konnte ich auf den Tod neugierig sein – er wäre ein weiteres Abenteuer, das ich zu meinen eigenen Bedingungen erleben würde.
    Religion war meiner Meinung nach hinderlich für ein authentisches Leben, besonders wenn man sich nur aus einem Grund der katholischen Kirche anschließt – damit einem die eigene Mutter nicht für den Rest des Lebens den Stinkefinger zeigt. Und so verkündete ich meiner Mutter mit siebzehn, ich würde mich nicht firmen lassen. Kierkegaard habe schließlich gesagt, jeder müsse zu seinem eigenen Glauben finden, und den hätte ich nicht gefunden – und sie könne mich nicht dazu zwingen .
    Das war alles schön und gut für einen Teenie, der sich insgeheim für unsterblich hielt, wie meine zahllosen Strafzettel für zu schnelles Fahren bewiesen. Aber mit fünfundzwanzig kam mir die Idee vom Tod als Abenteuer idiotisch vor. Kaltschnäuzig, herzlos und vor allem unbedarft. Der Tod war kein Abenteuer; er war ein nahes und immer gegenwärtiges Nichts. Er war der Grund, weshalb mir die Kehle eng wurde, wenn ich sah, wie mein Großvater aus seinem Stuhl aufzustehen versuchte. Er war der Grund, weshalb wir alle bei den Nachrichten die Hände vor das Gesicht schlugen.
    Ich hatte vor kurzem das College abgeschlossen, nachdem ich erst mit einundzwanzig mit dem Studium angefangen hatte, weil ich nach der Schule meinem authentischen Selbst nach Europa folgen wollte. Jetzt war für den nächsten Sommer der Umzug nach New York
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