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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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erschrockenen,
ratlosen Erregung all das anstellten, was in dem Moment zu tun war.
    Was folgte, war nichts anderes, als was in dieser Situation, die an
einen Polizeibericht erinnerte, zu erwarten war. Der Gastwirt klopfte lange an
der Tür – zuerst höflich, später mit der Faust –, und als keine Antwort kam,
warf er sich mit der Wut einer gereizten Bestie gegen die geschlossene Tür.
Dann geschah alles so, wie erwartet. Ein Jäger eilte hinunter in die Küche und
holte eine Axt, ihm auf den Fersen erschienen die Hausfrau, die zwei
Dienstmädchen und der junge Mann, der im Schuppen und beim Putzen half, und als
hätte die Tür nur darauf gewartet, dass die Zahl der Anwesenden sich
vervollständigte, gab sie den Axthieben nach und brach mit großem Getöse ein.
Einzeln betraten wir den halbdunklen Raum, feierlich und höflich auf
Zehenspitzen; der Gastwirt ging zum Fenster und zog die Rouleaus hoch. Die
Mitglieder der Gesellschaft stellten sich im Halbkreis um den Ofen auf, in
achtungsvoller Entfernung von den Betten. Wir waren viele in dem engen Zimmer
und drängten und reckten uns stumm, mit der wichtigtuerischen Aufmerksamkeit
von Augenzeugen und zugleich mit neugierigem Abscheu. Das Bild, das wir sahen,
betrog unsere selbstvergessenen Erwartungen nicht.
    Im Bett lag das ältere Ehepaar – noch immer bezeichneten wir dieses
Paar in Gedanken so – in bewusstlosem oder vielleicht schon leblosem Zustand.
Bald erfuhren wir, dass Z. recht gehabt hatte. Der Mann war schon tot, als wir
die Tür aufbrachen, die Frau atmete noch. Besonders überraschte uns die
Ordnung, die uns in diesem Zimmer empfing. Das Paar lag in Nachtgewändern in
den Kissen, so starr und feierlich, als warteten sie auf den Geistlichen, der
ihnen die Letzte Ölung geben würde, ihre Tageskleidung lag in ernster und
sorgsamer Anordnung auf zwei Stühlen an den beiden Seiten des Bettes, die blank
geputzten Schuhe standen auf Schuhleisten gezogen vor dem Ofen. Und überall
diese ängstliche Ordnung, auf der Frisierkommode, wo die Tiegel und Flakons der
Frau aufgereiht waren, im Schrank, dessen Tür sie offen gelassen hatten und in
dem sich Herren- und Damenkleider in paariger Reihenfolge auf den Bügeln
abwechselten, überall eine auf den Zentimeter eingeteilte, beinahe wahnwitzige
Ordnung. Neben dem Waschbecken türmten sich die ausgewählt feinen Koffer, die
Schlüssel waren mit dünnen Bändern an die Griffe der Gepäckstücke gebunden, als
wollten sie mit höflicher Voraussicht demjenigen die Kontrolle und Durchsuchung
erleichtern, der bald gezwungen sein würde, sich damit zu befassen. Auf dem
Nachtschränkchen stand auf der Seite der Frau ein Marienbild in edlem
Goldrahmen, daneben lag ein Brief; auf dem Tischchen an der Seite des Mannes
flackerte noch immer die Kerze; dieses schwache Licht hatten sie vergessen,
oder sie waren schon zu kraftlos gewesen, um es zu löschen. Und diese
vollkommene Ordnung überall, um diesen Tod herum, eine peinliche, eine
verdächtige, ängstliche, geisteskranke Ordnung. Hier hatte sich jemand auf die
endgültige Unordnung vorbereitet, auf das große Nichts, auf die vollständige
Vernichtung, auf den Tod, und zuvor noch alle kleinen Gegenstände und alles
Zubehör um sich herum sorgfältig geordnet, das spürten wir alle und schwiegen
erschrocken. Denn diese große Ordnung war schrecklicher als der Anblick des
toten Mannes und der sterbenden Frau. Diese Ordnung zeigte die
Aussichtslosigkeit aller menschlichen Unternehmungen, die der Mensch noch in
den letzten Augenblicken mit so krampfhafter Anstrengung zu verwirklichen
bemüht ist. Eine ernsthafte und traurige Sehnsucht spiegelte sich in diesem
fruchtlosen Bemühen, die Sehnsucht, die große Unordnung des Lebens in Ordnung
zu bringen – und diese Sehnsucht war, als wir die Gesichter des im Bett
ruhenden Paares sahen, eben doch ergreifend. Sie hatten auf ihre Weise Ordnung
gemacht – das spürte ich. Aber diese Ordnung war nicht vollkommen, weil einer
von ihnen noch lebte.
    Alles, was auf die ersten, gelähmten Augenblicke der Befangenheit
und Erschütterung folgte, war zu lärmend, zu schwärmerisch und zu primitiv, als
dass es wert wäre, als Erinnerung detailliert bewahrt zu werden. Die Empörung
des Gastwirtes ist freilich schwer zu vergessen. Wie alle einfachen Menschen
empfand er das Außergewöhnliche und Unbequeme
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