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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen
Autoren: Edwin Klein
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    Die Sonne fand manchmal eine Lücke zwischen den dick­bauchigen Regenwolken und schickte grelle Lichtstreifen zur Erde. Kahl die Weinberge, kahl die Felder, einige gerade ge­pflügt mit dunklen, feucht glänzenden Schollen und aufgeregt flatternden Vögeln auf der Suche nach Nahrung. Träge floss die Saar, gurgelnd und am Ufer nagend, das Grau der Wolken widerspiegelnd. Zwei Schwäne hatten sich in eine ruhige Bucht verirrt, zupften sich gegenseitig an den Federn und schienen auf ihre Artgenossen zu warten.
    Sie drückte sich mit angezogenen Beinen auf dem Rücksitz in die Ecke, kreuzte die Arme vor den Oberkörper, als suche sie Schutz. Schon seit dreißig Minuten schaute sie teilnahms­los aus dem Fenster. Dreißig Minuten – den Blick nach innen gekehrt, Falten auf der Stirn, die Lippen dünn – in denen sie kein Wort mit dem Taxifahrer gesprochen hatte. Zu sehr war sie mit ihren düsteren Gedanken beschäftigt, mit den vielen Fragen, die sich ihr aufdrängten und eine Antwort forderten. Diese umging sie, indem sie immer wieder sprunghaft an etwas anderes dachte. Ihr Repertoire an schlimmen Erinnerungen schien unerschöpflich zu sein.
    Das Ortsschild von Saarburg. Wenig später rollte das Auto langsam durch ein Wohngebiet bis zu einem Wendehammer. Sie stieg aus, lieh sich bei einem Nachbarn Geld, entschuldigte sich vielmals, bezahlte den Fahrer und sah dem Taxi nach. Zö­gernd, als müsse sie sich überwinden, ging sie auf das schmie­deeiserne Tor mit den Spitzen aus Messing zu. Unübersehbar stand dort der Name von Rönstedt zu lesen, kunstvoll in das Metall eingefräst, wie für alle Zeiten. Und daneben das Fa­milienwappen, ein auf der Hinterhand stehendes Pferd, einge­rahmt von zwei quer laufenden gelben Bändern, die ein brei­teres, blaues schnitten. Die gelben Bänder signalisierten den Grundbesitz, das blaue stand für die Saar, die wenige Kilome­ter flussabwärts in die Mosel mündet.
    Sie tippte auf der Tastatur eine vierstellige Zahl. Klickend sprang die Eingangstür auf. Sie ging hindurch und drückte sie wieder ins Schloss.
    Nachdenklich schritt sie die gepflasterte Straße hinauf zum Haus. Als sähe sie dies alles zum ersten Mal, betrachtete sie die Umgebung: rechts das Gartenhaus und weiter oben auf der Kuppe des Hanges ein Steingebäude mit flachem Satteldach – das Gästehaus mit dem Schwimmbad.
    Trostlos sah das große Grundstück mit den hoch gewach­senen, weit ausladenden Buchen und Lärchen, die ihre Blätter und Nadeln längst verloren hatten, um diese Jahreszeit aus. Kein Laub, kein frisches Grün, und dazu das trübe graue Wet­ter mit den tief hängenden, klumpigen Wolken. Trostlos wie ihre Stimmung, wie ihre Zukunft, wie ihr Leben.
    Sie hielt inne. Über die Schulter schaute sie zum Eingangstor. Noch konnte sie zurück. Wenn es für sie eine Zukunft gab, dann begann sie jenseits dieses Tores.
    Sie umfasste das Geländer, zog sich daran hoch und stieg langsam, als trüge sie eine Last auf den Schultern, die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Fremd kam ihr das Haus mit den gemauerten, grau glänzenden Schiefersteinen und den breiten Fugen vor. Fremd, düster und bedrohlich.
    Noch bevor sie den Schlüssel aus der Handtasche genommen hatte, hörte sie das aufgeregte Miepen. Um diese Uhrzeit war die Haushälterin bereits gegangen, die in ihrer Abwesenheit auch nach den Hunden schauen sollte.
    In der Diele wurde sie so freudig begrüßt, als wäre sie Wo­chen abwesend gewesen. Die beiden Labradorhunde dräng­ten sich an sie, drückten ihr die Schnauze in die Kniekehle, beschnupperten ihre Hand und tänzelten mit wedelndem Schwanz neben ihr her.
    Erst nachdem sie ihr Quantum an Streicheleinheiten genossen hatten, beruhigten sich die Hunde etwas und legten sich, den Kopf zwischen die Vorderpfoten, auf den Boden und schauten sie mit treuen Augen an. Wie schön wäre es, überlegte sie, wenn sie die Freiheit der Hunde hätte. Und deren Unbeschwertheit und Natürlichkeit, Gefühle zu zeigen und welche entgegenge­bracht zu bekommen. Ungefiltert und ohne Berechnung.
    Sie war wieder einmal zuhause. Zumindest an dem Ort ange­kommen, an dem sie in den vergangenen Jahren gewohnt und gelebt hatte. Zuhause, darunter verstand sie etwas anderes.
    Kaum den Mantel ausgezogen und die Schlüssel abgelegt, hatten sie Gegenwart und Gewohnheit eingeholt. Wie jeden Tag inspizierte sie, als gelte es ein Ritual einzuhalten, alle Räu­me, rückte dort ein Bild gerade, stellte einen Stuhl exakt auf
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