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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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ins Ordenshaus zurückgebracht
wird, so, wie jetzt Charissima zurückgebracht wurde, ich meine, für immer, was
kann man so einer Person noch sagen?«
    Beinahe neugierig sah er mich an. In seinem alten Gesicht spiegelte
sich eine kindliche Neugier, als interessierte es ihn tatsächlich, als wollte
er wissen, was ich ihr sagen würde, wenn die Oberin es zuließe.
    Tatsächlich, was würde ich ihr denn sagen? Ich wusste es selbst
nicht. Darum fragte ich: »Weiß Charissima, dass … dass mir der ›Kunstfehler‹
letztendlich nicht geschadet hat?«
    Rasch sagte er, fiel mir ins Wort: »Charissima weiß gar nichts. Es
interessiert sie auch nichts. Sie sagt nur manchmal: ›Gott ist gnädig.‹
Mechanisch sagt sie das. Aber ansonsten ist sie ruhig. Verstehen Sie, Maestro?«
    Â»Ich verstehe«, sagte ich.
    Wir reichten uns die Hand.
    Â»Gute Nacht«, sagte er leise, sanft und freundlich.
    Â»Gute Nacht«, sagte ich und drückte ihm die Hand.
    Â»Schlafen Sie gut«, sagte er und biss sich auf die Unterlippe. »Und
erwachen Sie morgen erholt und geheilt. Die Fahrpläne der Himmelswege kennen
wir nicht, auch nicht wir Schamanen. Aber den Fahrplan des Schnellzugs nach
Budapest werde ich noch im Büro nachsehen lassen. Um zehn Uhr am Morgen fahren
wir los zum Bahnhof. In Ordnung?«
    Â»In Ordnung«, sagte ich, wir ließen unsere Hände nicht los. »Und
vielen Dank für alles.«
    Â»Bitte«, sagte er ernst. »Bedanken Sie sich nur. Wir hatten genug
Mühe mit Ihnen.«
    Wir bemühten uns zu lächeln. Beide wollten wir noch etwas sagen. Wir
suchten nach Worten, unsere Lippen bewegten sich nervös. Schließlich war er es,
der meine Hand losließ. Verlegen begann er zu pfeifen. Dann verstummte er.
    Â»Es ist spät«, sagte er. »Ihr Puls ist ausgezeichnet. Sie vertragen
viel, Maestro. Und Sie haben viel gelernt in den vergangenen Monaten. Sie waren
ein ausgezeichneter Patient. Sie haben gelernt, dass es nicht ausreicht, krank
zu sein, nicht ausreicht, Medikamente zu bekommen. Man muss auch antworten
können, der Krankheit und allem, was die Krankheit und die Heilung schickt.
Auch das muss man lernen. Und dann, wenn einen das Leben ruft –

6.
    Hier ist das Manuskript zu Ende. Z.s Nachlass – sein
Gepäck, seine Bücher, all seine Aufzeichnungen – ist in Luzern geblieben. Der
Krieg hat diesem Nachlass sein Siegel aufgedrückt.
    Es kam auch keine Nachricht darüber, ob im Nachlass des Künstlers
ein musikalisches Werk erhalten geblieben ist. Die Welt hatte in den
vergangenen Jahren auf andere, schrecklichere Melodien geachtet; das Schicksal
eines verschollenen musikalischen Manuskripts regte niemanden auf. Vielleicht
wird es Leser geben, die diese Geschichte als letztes Werk eines Musikers lesen
werden, in dem die Melodie wichtiger ist als der Text. Und die Melodie hat
niemals einen »Sinn«. Dennoch drückt sie etwas aus, was sich mit Worten nicht sagen
lässt.

 
    *
Márai ist nicht konsequent bei der Benennung des Zeitpunktes, später spricht er
     vom vierten Weihnachten.

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