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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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diese
Erregung aus, die sich jetzt in meinem Körper ausbreitete? Vielleicht war ich
noch gar nicht so gesund, wie ich dachte, die Krankheit war noch nicht
vergangen. Ich spürte keinen Schmerz, aber etwas dämmerte mir, etwas schien auf
von der Erregung, die in den Stunden vor dem Konzert dem Ausbruch der Krankheit
voranging. Wieder »fühlte ich mich nicht wohl«, genau so, wie der Professor
gesagt hatte. Und ich wollte nicht allein bleiben. Ich würde nicht schlafen
können in dieser Nacht, das stand fest. Und wie eine neue Variante der
Krankheit durchdrang meinen Körper und meinen Verstand diese Erregung. Ich
wollte nicht, dass Charissima ging, ich wollte nicht allein bleiben in der
Nacht, mit dieser Beklemmung, dieser Schlaflosigkeit, mit dem schlechten
Nachgeschmack der Krankheit. Dies würde meine letzte Nacht im Krankenhaus sein.
Das schlimme Abenteuer war zu Ende. Morgen würde das Flugzeug auf mich warten,
das Meer, der Himmel, eine Frau, und dann? Der Tod konnte auch nicht mehr weit
sein. Dieses eine Mal hatte er meine Hände noch losgelassen, aber weit konnte
er nicht mehr sein. Was sollte ich anfangen mit diesem Rest geschenkten Lebens?
Würde wieder der schlimm-unerbittliche Zwang der Kunst beginnen, die
schmerzlich-glückliche Beziehung mit E., die mir alles geben wollte, mit einer
anderen Kranken, die mich schon einmal vergiftet hatte? Ich spürte die quälende
Hoffnungslosigkeit aller irdischen Situationen, aller menschlichen Beziehungen,
aller körperlichen Unternehmungen. Und plötzlich erwachte in meinem Körper und
Verstand die Sehnsucht, alles zu vergessen. Noch einmal diesen bösen Taumel
spüren, in dem alles versinkt, der Schmerz und die Sehnsucht nach Freude, das
›chemische Stelldichein‹, den Taumel der vergiftenden Kraft der Spritze. Ich
streckte die Hand aus.
    Â»Warten Sie!«, rief ich. Sie stand in der Tür.
    Â»Heute Nacht will ich schlafen«, sagte ich in beinahe gebietendem
Ton.
    Und Charissima antwortete im sachlichen und gleichmütigen Ton der
diensthabenden Nonne: »Schlafen? Sind Sie nicht müde, Maestro? Ich hole Ihnen
sofort ein Pulver.«
    Ich setzte mich im Bett auf. Laut und erregt sprach ich.
    Â»Ich brauche kein Pulver. Ich will eine Spritze.«
    Sie schwieg. Sah mich an.
    Â»Verstehen Sie nicht? Eine Spritze, eine starke Spritze, die gewisse
… was schauen Sie so?«, fragte ich, beinahe grob. »Sie wissen schon, woran ich
denke.«
    Charissima bewegte sich, mit raschen Schritten näherte sie sich
meinem Bett. In ihrem blassen Gesicht sah ich zum ersten Mal menschliche Züge,
ein ehrliches Erstaunen, Neugier und Verblüffung hatten ihre maskenartige
Starre abgelöst.
    Â»Die Spritze?«, fragte sie gedehnt. »Aber warum, Maestro? Haben Sie
Schmerzen? Soll ich den Herrn Doktor rufen?«
    Nervös winkte ich ab, niemanden solle sie rufen, ich spürte den
Geschmack der Spritze in Mund und Gliedern, die Erschlaffung, die Erinnerung an
die lustvoll-schändliche Freude der Vernichtung dämmerte in meinem Körper; wie
ein Trunksüchtiger, ja wie jeder, der sich irgendwann an ein Gift gewöhnt hat,
spürte ich, dass ich mich von dieser Erinnerung nicht befreit hatte, und in
diesem Augenblick, nach diesem Gespräch, reisefertig, »geheilt«, brauchte ich
nichts anderes, ich wollte nur noch einmal das vollkommene Vergessen, dieses
künstliche und doch so absolute Erlebnis der Vernichtung. Schließlich hatte ich
dafür gedient. Ich war kein Morphinist, seit Wochen hatte ich kein einziges Mal
nach dem Gift verlangt. Ich hatte Schmerz und Schmachten ertragen, hatte aus
freiem Willen auf das Opium verzichtet; aber jetzt, in dieser Nacht, wollte ich
schlafen und vergessen, wollte nicht wissen, dass ich einen Körper hatte,
wollte nichts über das Gestern wissen und über die Musik, und auch nichts über
das Morgen, über das, was noch kommen würde in diesem ausgebrannten Leben. Für
eine Nacht wollte ich zurückfallen in die Grube, in die Bewusstlosigkeit, in
den Tod. Das wollte ich, und plötzlich verstand ich all jene, die stehlen,
betrügen und lügen können, um sich diesen quälend-lustvollen Zustand der
Bewusstlosigkeit zu verschaffen. Ich wollte um jeden Preis für einige Stunden
vernichtet werden. Und am nächsten Morgen würde ich fortgehen. Nicht mehr diese
barmherzigen Schattengestalten der Unterwelt sehen, diese Komparsen
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