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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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nächtliche Wanderungen gewöhnt sind, die Tür
hinter sich schloss.
    Ich verstand nur, dass man etwas tun musste. Vielleicht läuten. Oder
das Licht anschalten. Aber ich hatte keine Kraft mehr zu diesen Bewegungen. Das
war kein Schwindel, das war ein Sturz in schreckliche Tiefen, mit dem Kopf nach
hinten, ohne Körper, und dennoch mit allen Lasten des Körpers und des gesamten
Seins. Ein Stein mag so im tiefen Wasser stürzen, ohne Gewicht. Einen
Augenblick lang glühte mich durchs Dunkel noch Angst an, dann das Nichts. Ich
erwachte davon, dass man mich ohrfeigte.
    Der Professor, der Unterarzt und zwei fremde Schwestern standen an
meinem Bett; im Zimmer funkelte das Sonnenlicht.
    Sie ohrfeigten mich ordentlich, besonders der Unterarzt, ohne
Schonung, im Takt.
    Während der Ohrfeigen schlief ich ein. Nachts wachte ich wieder
auf. Ich war erholt und fühlte mich gesund. Ich läutete. Eine unbekannte Nonne
und der Unterarzt eilten in mein Zimmer.
    Ich machte eine Geste, dass ich keine Pflegerin brauchte. Wir
blieben zu zweit, der Schamane setzte sich an mein Bett und blinzelte müde,
matt und zerknautscht. In vierundzwanzig Stunden harter körperlicher Arbeit
hatte er mich zurück auf die Welt geohrfeigt. Diese Lebensrettung war nicht mit
so feinen Mitteln vor sich gegangen wie damals, als Charissima mich gezwungen
hatte zu leben; es war körperliche Arbeit gewesen, rau und wirkungsvoll. Jetzt
blinzelte er müde und zufrieden.
    Ich war nicht müde. Das Gift war noch nicht völlig resorbiert, das
Anregungsmittel ging mir durch Leib und Nerven. Wach und sachlich fragte ich:
»Was ist hier geschehen?«
    Bereitwillig antwortete er: »Es war ein Kunstfehler.« Er zuckte mit
den Schultern. »Das kommt vor. Zum Glück nur selten.«
    Â»War es eine tödliche Dosis?«, fragte ich.
    Er schniefte.
    Â»Vielleicht.« Er rieb sich die entzündeten Lider. »Jedenfalls war es
mehr, als Sie vertragen, Maestro. Aber es war auch weniger, als Sie vertragen.
Die Dosis war irgendwo an der Grenze«, sagte er fachmännisch und zufrieden.
    Â»Aber sie wird keine Schwierigkeiten bekommen?«
    Â»Wer?« Er lachte, aber sein Lachen war nicht ehrlich. »Charissima?
Was denken Sie denn? Lächerlich. Charissima ist eine ausgezeichnete,
gewissenhafte Pflegerin. So eine Unaufmerksamkeit kann in den besten
Krankenhäusern vorkommen. Wichtig ist, dass wir darüber hinweg sind«, sagte er
nervös und wollte von etwas anderem reden. Aber ich ließ ihn nicht von etwas
anderem reden.
    Â»Was hat der Professor zu diesem Kunstfehler gesagt?«
    Â»Der Professor?« Er sah an die Decke, mit nachdenklichem Blick, als
erwartete er eine Antwort von oben. »Was konnte er schon sagen? Jeder Arzt
richtet ein Blutbad an, wenn so etwas auf seiner Station vorkommt. Aber die
Blutbäder des Professors sind leise und unblutig.«
    Â»Wo ist sie jetzt?«, fragte ich eigensinnig. Er antwortete wieder
bereitwillig: »Cherubina und Dolorissa haben sie heute Vormittag begleitet. Sie
ist nach Hause gegangen, nach Pistoia, ins Ordenshaus.«
    Â»Gut«, sagte ich erleichtert.
    Wir schwiegen. In mir war eine große Ruhe. Ich spürte, dass ich
tatsächlich am Ende der Krankheit angekommen war. Der »Kunstfehler« war wie der
Punkt am Ende eines langen Satzes. Jetzt hatte ich nichts mehr zu erledigen,
ich konnte gehen. Und ich sprach es aus: »Morgen reise ich ab.«
    Â»Natürlich«, erwiderte er diensteifrig. »Morgen oder wann Sie
wollen. Das Büro hat schon dafür gesorgt, dass Sie in jedem beliebigen Flugzeug
einen Platz finden.«
    Â»Nein«, sagte ich, »ich fliege nicht. Ich fahre mit der Eisenbahn.«
    Er kaute an seiner Unterlippe. Geniert und unsicher sagte er: »Mit
der Eisenbahn? Nach Athen?«
    Â»Nach Hause«, sagte ich. »Nach Hause nach Budapest. Ich reise nicht
nach Athen.«
    Â»Ich verstehe«, sagte er kurz.
    Wir sahen einander wortlos an. Er zuckte mit den Schultern und
begann im Zimmer herumzuspazieren, wie er es immer tat. Viel Zeit verging so.
Manchmal schüttelte er den Kopf, als diskutierte er stumm mit jemandem.
    Â»Begleiten Sie mich morgen zum Bahnhof?«, fragte ich.
    Â»Zum Bahnhof?« Wieder spähte er blinzelnd an die Decke. »Zum
Bahnhof, gewiss. Ich werde Bescheid geben, dass man Ihnen ein Schlafabteil
reserviert.«
    Â»Ich brauche kein Schlafabteil«, erwiderte ich. »Mir fehlt
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