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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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Dann reisen Sie also am Sonnabend? Bis dahin treffen wir uns noch.«
    Mit einer freundschaftlichen Abschiedsbewegung nahm er meine Rechte
in die Hand, es war eher eine Berührung als ein Druck. In diesem Augenblick
spürte ich, dass er unter dem Vorwand dieses freundschaftlichen Händedrucks mit
den Spitzen seiner weichen Finger den Ring- und den kleinen Finger meiner
rechten Hand noch einmal vorsichtig befühlte.
    Das geschah am Donnerstagnachmittag. Der Freitag verging mit
Packen, Ordnen und Abschiednehmen voller Lampenfieber. Ich verabschiedete mich
von den Schwestern, ließ aus der Stadt Geschenke bringen. Cherubina weinte,
Dolorissa war spröde und überheblich, nahm aber das Geschenk dankbar an,
Matutina lispelte gnädig, Charissima, die Leidende, grüßte wortkarg und
offiziell. Dem Unterarzt überreichte ich einen Scheck, er steckte ihn wortlos
in die Tasche und zuckte mit den Schultern. Er sagte, er werde mich auf den
Flugplatz begleiten. Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre Verlegenheit
sehen und spüren müssen. Aber Wochen vergingen, bis ich mich ans Klavier setzte
und die Erfahrung machte, dass zwei Finger meiner rechten Hand gelähmt waren.
    Jetzt beschäftigten mich andere Dinge. Bis zum Abend wurde
eingepackt, Cherubina und das Zimmermädchen hatten sich dessen angenommen,
Besucher kamen, zwei Vornehmheiten der lokalen Parteiorganisation, zwei gnädige
Herren mit grauem Haar und Bauch, im schwarzen Hemd mit Auszeichnungen. Sie
waren höflich, und ihr Leibesumfang und Alter wirkten verfehlt kriegerisch in
dieser studentisch-kämpferischen Uniform; so musste die verfettete Revolution
sein. Ich dankte ihnen für die Hilfe von amtlicher Seite, sie bedauerten das
Unglück und hofften, es werde sich alles zum Guten wenden. Nach dem offiziellen
Abschied war ich müde. Ich legte mich ins Bett – zum letzten Mal in das
besondere Bett, das in diesen Monaten mein Zuhause gewesen war – und bat
Cherubina, man möge mich am Morgen früh wecken. Die Essenszeit war vorbei, das
Zimmer füllte sich mit der schweren abendlichen Ruhe des Krankenhauses, mit
dieser künstlichen, stickigen Stille, mit der Lautlosigkeit des unter einen
Schalldämpfer gepressten Leidens. Lange lag ich mit geschlossenen Augen
schlaflos da. Im Halbschlaf dämmerten Bilder, Worte, lautlose und gestaltlose
Erinnerungen, die sich auflösenden, nebelhaften Visionen der vergangenen
Monate. Die schreckliche Erinnerung an den Schmerz, dieses gestaltlose
Gespenst, und dann an den Nachgeschmack des wohltuenden Nebels schien auf, die
Erinnerung an den ekelerregenden und dennoch verboten attraktiven Rausch des
›chemischen Stelldicheins‹. So lag ich, im Nebel von Geschmäckern und
Empfindungen, als hörte ich Musik. Ich wachte davon auf, dass sich geräuschlos
die Tür öffnete und die Gestalt einer Schwester im Halbdunkel erschien.
    Charissima spähte aus der Türöffnung. Als sie sah, dass ich nicht
schlief, näherte sie sich auf Zehenspitzen. Das Büro schicke mir eine
Botschaft, sagte sie, die Zentrale habe mitgeteilt, dass sich Athen heute Nacht
nicht melde. Die Zentrale von Florenz glaube, irgendwo gebe es eine
Betriebsstörung, und es stehe zu befürchten, dass sie erst nach Stunden mit
Athen verbinden könnte, gegen Morgen. Ob ich wünschte, dass man mich auch so
spät noch mit dem Klingeln störe?
    Â»Wie spät ist es?«, fragte ich.
    Die Schwester sah auf ihre Armbanduhr.
    Â»Nach ein Uhr«, sagte sie in diensteifrigem Ton.
    So lange hatte ich geträumt! Vielleicht würde es drei oder vier Uhr
am Morgen werden, bis man mich mit der Athener Geheimnummer verbinden könnte!
Zu so später Stunde konnte ich E. nicht stören. Die genauen Einzelheiten von Reise
und Ankunft hatten wir schon in der Nacht zuvor besprochen.
    Â»Bitte«, sagte ich. »Sagen Sie im Büro Bescheid, dass der Anruf
gelöscht werden soll. Es wäre zu spät, wenn er ankäme.«
    Â»Ja«, sagte sie gehorsam. »Es wäre vielleicht schon Morgen. Es würde
die Athener Nummer stören.«
    Sie sagte das unbeteiligt, im Gesprächston. Mit dem Rücken zu mir
gewandt, räumte und ordnete sie einige Dinge auf dem Tisch. Ich achtete nicht
auf sie.
    Â»Ich möchte nicht, dass sie vom Klingeln geweckt wird«, sagte ich
beiläufig.
    Â»Ja«, antwortete sie, drehte sich mit dem vollgepackten Tablett auf
dem Arm
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