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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester
Autoren: Sandor Marai
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direkt ins Gesicht. Lange.
    An die Worte, die in den folgenden Minuten erklangen, erinnere
ich mich wie an einen Satz aus der Musik, dessen Notenzeichen man nicht einzeln
zu notieren braucht. Wer ihn einmal gehört hat, erinnert sich ohne Irrtum und
Auslassungen an das Ganze. Sie sagte: »Sie sind gesund, also gehen Sie fort.«
Sie sagte nicht: »Maestro.« Sie war nicht höflich, gesellschaftlich, auch nicht
diensttuend. Person sprach zu Person, schroff, unmittelbar, eilig. Und dieser
Tonfall und diese Anrede gestatteten nicht, dass ich die Antwort aufschob, dass
ich mich bequem hinter einem Gemeinplatz versteckte. Auf jedes ihrer Worte
musste ich antworten, wie wenn jemand unerwartet angegriffen wird und Schlag
mit Schlag und Schwerthieb mit Schwerthieb abzuwehren ist.
    Â»Was kann ich tun?«, fragte ich. »Hierbleiben kann ich
nicht. Das hätte keinen Sinn.«
    Sie nickte.
    Â»Nein«, sagte sie zustimmend. »Das hätte keinen Sinn.«
    Der Satz verklang, und zugleich spürte ich eine Erregung, als tobte
eine Feuersbrunst um mich herum. Das Unerwartete, das Gefährliche, das
Unfassbare wirkt so auf Menschen. Ich versuchte es noch mit einem letzten
Ausweg.
    Â»Wir können nicht wissen«, sagte ich vorsichtig, »was die Natur mit
uns will, wenn sie uns so eine große Krankheit schickt. Und dann werden wir
gesund, durch den Willen irgendeiner Kraft. Denken Sie nicht?«
    Sie antwortete sofort, rau und scharf: »Das können wir tatsächlich
nicht wissen. Aber alles ist so ungeordnet. Man muss nicht glauben, dass alles
einen Sinn hat. Vielleicht hat die Krankheit keinen. Und Heilung und Tod haben
auch keinen Sinn.«
    Sie sprach laut, schrie beinahe. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben.
Als unterhielte ich mich nur in der Nacht mit einer Krankenschwester über
interessante, aber letztlich unpersönliche, gleichgültige Dinge. Ein wenig
eigenartig war dieses Gespräch, aber gleich würde der Morgen kommen, der Kranke
würde abreisen, die Schwester hierbleiben, todkrank. Sie hatte das Recht, auf
so eigenartige Weise zu fragen und zu antworten. Ein Mitternachtsgespräch war
das Ganze, sonst nichts. Ich ging in einen Erzählton über. Ich hätte sie gern
beruhigt.
    Und als ich schwieg: »Maestro, Sie sind sehr gut, dass Sie überhaupt
mit mir sprechen …«
    Â»Ja«, sagte ich, »ja, liebe …«
    Ich suchte nach ihrem Namen. In meiner Erregung und Zerstreutheit
hatte ich ihren Namen vergessen, anderes beschäftigte mich, ich dachte an E.,
daran, dass ich sie am nächsten Tag sehen würde.
    Â»Charissima«, sagt sie demütig und so still, als bäte sie flüsternd
um Verzeihung.
    Charissima … Der Name berührte mich, ich
sah zu ihr auf. Ein schöner Name, ein Superlativ, eine lateinische Übertreibung
steckt darin, Musik und Leidenschaft. Und er passte so wenig zu ihr.
Hunderttausende von Malen hatte man sie mit diesem Namen angesprochen, Kranke,
Kolleginnen, Ärzte und Fremde, und vielleicht hatte man sie kein einziges Mal
so mit diesem Namen versehen, wie es der Klang des Namens gebietet, mit
völliger Innigkeit und Vertrautheit: Liebste … Kann
ein Mann zu einer Frau ein schöneres Wort sagen? E. musste ich so nennen,
morgen, bei der Ankunft, denn sie war die »Liebste«. Ich schaute zu der Frau
auf, die diesen schönen Namen trug, und sah nur ein ausdrucksloses,
totenmaskenhaftes, weißes Gesicht.
    Entschuldigend sagte ich: »Ich kann nicht alles erzählen. Es gibt
eine Frau, die Frau, die die Briefe geschrieben hat.«
    Zustimmend nickte sie.
    Â»In Athen«, sagte sie sachlich.
    Â»In Athen«, sagte ich.
    Â»Und diese Dame«, widerstrebend sprach sie das Wort aus, sie
bezeichnete E. jetzt zum ersten Mal mit einem solchen gesellschaftlichen Titel,
»erwartet Sie, Maestro?«
    Ich machte eine Geste, ja, sie erwartet mich.
    Charissima schwieg. Dann bewegte sie sich, wollte losgehen.
    Â»Sie werden sehr glücklich sein, Maestro.«
    Ich streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten.
    Â»Sie gehen schon?«
    Sie sah nicht zurück auf dem Weg zur Tür.
    Â»Es ist spät. Ich werde erwartet. Gute Nacht«, sagte sie höflich und
leise.
    Und ihre Hand auf der Klinke. Was war das? Was war geschehen? Wieso
hatten wir über all das gesprochen? Was hatte Charissima mit meinem Leben,
meiner Heilung, meiner Gesundheit oder Zerstörung zu tun? Und was löste
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