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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy
Autoren: Mark O'Sullivan
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    Mein Dad ist zehn Jahre alt.
    Eines Abends im letzten Jahr, als er zweiundvierzig war, joggte er unsere Straße entlang. Eine ruhige Straße, die hinunterführt zum Fluss, der durch unsere Stadt fließt. Mir hat es hier immer gefallen. Man wohnt in alten dreistöckigen Häusern mit steilen Stufen vor den Haustüren. Es gibt viele Bäume. Und im Herbst nasse, todbringende Blätter. »Schlimmer als Glatteis, diese Blätter«, sagte später am Abend ein Polizist.
    Er joggt also, mein Dad. Er trägt eine blaue Retro-Trainingshose. Er ist über eins achtzig, darum sieht sie bei ihm nicht ganz so schlabberig aus. Dazu eins von seinen Zinédine-Zidane-Trikots. Er hat eine ganze Sammlung davon, von allen Mannschaften, in denen Zidane gespielt hat. Das schwarz-weiß gestreifte von Juve. Das weiße von Real Madrid. Ein Stapel blaue der französischen Nationalmannschaft. An dem Oktoberabend trug er das französische Weltmeister-Trikot von 1998. Seinen Glücksbringer.
    Er joggt also. Und er hört Musik von seinem MP3-Player. Seine Jogging-Musik. Die Undertones , eine nordirische Punk-Rock-Band aus den späten Siebzigern. Laute, eingängige Riffs und ein vorwärtsdrängender Beat. Kein wütender Sex-Pistols -Punk, sondern Joie-de-vivre -Punk, wie er sagte,wenn er einen seiner kleinen Französischanfälle hatte. Voll-das-Leben-Punk. Manchmal frage ich mich, welchen Song er wohl gerade hörte, als es passierte. Als ob das eine Rolle spielte. »You’ve Got My Number«? Oder »Teenage Kicks«? Oder »Jimmy, Jimmy«, seine Hymne? Wir werden es nie wissen, denn sein MP3-Player ging im Chaos nach dem Unfall verloren.
    Wenn ich an den schrecklichen Tag denke, ist es immer »Jimmy, Jimmy«. Er heißt Jimmy. Sie sagen, wir sollen ihn nicht mehr Dad nennen. Es könnte ihn in Panik versetzen. In noch größere Panik als die, in der er sowieso ständig lebt. Falls das überhaupt möglich ist.
    Er ist also zweiundvierzig und joggt. Um nach einem langen Tag am Schreibtisch den Kopf frei zu bekommen. Wenn ich aus der Schule kam, schaute ich immer hoch zu dem Fenster im ersten Stock links, wo er saß und arbeitete, und da war dieses Lächeln, mit dem er mich begrüßte. Es war dann, als würde an einem grauen Tag die Sonne durch die Wolken brechen, wie das Licht einer Straßenlaterne an einem nebligen Winterabend. Es war, als säße er den ganzen Tag nur da, um zu sehen, wie sein kleines Mädchen nach Hause kommt.
    Also er joggt. Er ist auf dem Rückweg nach seiner Fünf-Kilometer-Strecke, die die Borris Road hinunterführt und den River Walk entlang, bis er dann wieder umkehrt. Dad liebte den Fluss. Als wir klein waren, ging er mit meinem älteren Bruder Sean und mir dort oft spazieren. Wir fütterten die Enten, große, geschäftige Familien, die sich wild über unsere Brotstücke stritten, aber gleich darauf in einem friedlichen Konvoi davonzogen. Wir schauten den Schwänen zu, die elegant vorüberglitten, und Dad sagte, wir solltenunter die Wasseroberfläche schauen, auf die Füße mit den Schwimmhäuten, mit denen sie paddelten wie verrückt. »Cool auszusehen ist harte Arbeit«, sagte er.
    Er ist jetzt in der Cathedral Street. Es wird dunkel, und die beleuchtete Kirchturmuhr sieht aus wie ein gelber Mond. Zwanzig vor sieben plus/minus ein paar Minuten. Er überquert die Blackcastle Bridge und läuft über den Town Square. Die meisten Geschäfte haben schon geschlossen, und es sind nicht viele Leute unterwegs. Er biegt in die Long Mall, passiert den Wohltätigkeitsladen, wo sie gebrauchte Kleider für einen guten Zweck verkaufen, und dann die roten Backsteinhäuser. In einem davon ist der Süßigkeitenladen, in dem er Sean und mir immer Bonbons und Schokolade gekauft hat.
    Es ist unser Lieblingsladen, eins dieser coolen, irgendwie altmodischen Geschäfte. Alles aus dunklem Holz, hohe Regale und die alte Mrs Casey, zufällig auch unsere ein bisschen seltsame Nachbarin, die hinter ihrem Tresen jeden Tag ein Stückchen mehr zu schrumpfen scheint. Inzwischen ist es der Lieblingsladen unseres kleinen Bruders. Nur dass es jetzt Mam ist, die ihm dort Bonbons und Schokolade kauft.
    Tom, unser zweijähriger Nachzügler, auch bekannt als »die Zusatzüberraschung«, von Sean zu »Zusa« abgekürzt. Hört auch auf »Snot«, Rotz – ebenfalls Seans Idee, klar. Und für kurze Zeit auch »Zizou« genannt nach Zinédine Zidane, aber nur von Dad und jetzt überhaupt nicht mehr. Mam sagte immer, der arme Tom würde irgendwann als multiple Persönlichkeit
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