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Axis

Axis

Titel: Axis
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1
     
     
    Im Sommer seines zwölften Lebensjahres – dem Sommer, in dem die Sterne vom Himmel fielen – stellte Isaac fest, dass er Ost und West mit geschlossenen Augen unterscheiden konnte.
    Er lebte auf dem Kontinent Äquatoria, am Rande der großen Binnenwüste, auf dem Planeten, der der Erde von jenen unergründlichen Wesen hinzugefügt worden war, die als die Hypothetischen bezeichnet wurden. Man hatte diesem Planeten eine ganze Palette von grandios mythologischen und nüchtern wissenschaftlichen Namen verliehen, doch die meisten Leute nannten ihn, in einer der über hundert existierenden Sprachen, einfach die Neue Welt oder schlicht Äquatoria, nach dem am stärksten besiedelten Kontinent. Derlei Dinge hatte Isaac in einer Einrichtung gelernt, die man mehr oder weniger als Schule bezeichnen konnte.
    Er wohnte in einem Gebäudekomplex aus Backstein und Adobeziegeln, weit entfernt von der nächsten Stadt. Er war das einzige Kind in der Siedlung. Die Erwachsenen, bei denen er lebte, wahrten zwischen sich und der übrigen Welt eine gehörige Distanz. Sie waren anders, etwas Besonderes, auf eine Weise, über die sie nicht gern sprachen. Auch Isaac war etwas Besonderes. Das jedenfalls hatten sie ihm gesagt, immer wieder. Er wusste jedoch nicht, ob er ihnen das glauben konnte – er fühlte sich in keiner Weise wie etwas Besonderes.
    Hin und wieder fragten die Erwachsenen, vor allem Dr. Dvali und Mrs. Rebka, ob Isaac sich einsam fühle. Tat er nicht: Er hatte Bücher und eine große Sammlung von Videos, mit denen er sich beschäftigen konnte. Er war Schüler und lernte in seinem eigenen Tempo – nicht übermäßig schnell, aber stetig. In dieser Hinsicht, so Isaacs Verdacht, war er eine Enttäuschung für seine Aufsichtspersonen. Doch die Bücher, die Videos und die Lektionen gaben ihm etwas zu tun, und wenn sie nicht zur Verfügung standen, war da immer noch die Natur, die ihm eine Art stummer, gleichmütiger Freund geworden war: die Berge, die sich – grau, grün und braun – auf die trockene Ebene herabsenkten, das Wüstenhinterland, eine erstarrte Welt aus Fels und Sand. Hier wuchs wenig, denn Regen fiel nur in den ersten Monaten des Frühlings und selbst dann spärlich. In den ausgetrockneten Bachbetten behaupteten sich plumpe Pflanzen mit prosaischen Namen: Tonnengurken, Lederranken. Im Hof der Wohnanlage war ein Garten mit einheimischen Gewächsen angelegt worden: gefiederte Kakteen mit purpurroten Blumen, hochgewachsene Nimmergrüns mit netzartigen Blüten, die Feuchtigkeit aus der Luft zogen. Ein Mann namens Raj bewässerte manchmal morgens den Garten mit einer Pumpe, die tief in die Erde hinabreichte. Dann roch die Luft, noch im Umkreis von einigen Kilometern, nach mineralreichem, eisenhaltigem Wasser. An Bewässerungstagen gruben sich auch Felsmäuse unter dem Zaun hindurch und wuselten putzig über den gepflasterten Hof.
    Im Frühsommer seines zwölften Jahres verliefen Isaacs Tage in sanfter Gleichförmigkeit, so wie sie es immer getan hatten, doch dieser schläfrige Friede endete, als die alte Frau eintraf.
     
    Bemerkenswerterweise kam sie zu Fuß.
    Isaac hatte die Anlage an diesem Nachmittag verlassen und war ein Stück ins Vorgebirge hinaufgeklettert, auf einen granitenen Sockel, der aus dem Hang hervorsprang wie der Bug eines Schiffes aus einem steinernen Meer. Die Sonne hatte den Fels schön aufgeheizt. Isaac, mit breitkrempigem Hut und weißem Baumwollhemd als Schutz vor dem brennenden Licht, saß unter dem Rand des Hügelkamms, wo er noch Schatten fand, und beobachtete den Horizont. Backofenglut stieg in sich kräuselnden Wellen aus der Wüste auf. Gleichsam in der Hitze schwimmend, ein Schiffbrüchiger auf einem trockenen Floß aus Stein, saß er dort und rührte sich nicht, als die Frau auftauchte. Erst war sie nur ein kleiner Punkt auf der unbefestigten Straße, die zu den fernen Orten führte, an denen Isaacs Aufsichtspersonen Nahrung und sonstige Vorräte kauften. Sie bewegte sich langsam, so schien es jedenfalls. Beinahe eine Stunde verging, bis er sie als Frau identifizieren konnte, dann als alte Frau, schließlich als eine alte Frau mit einem Rucksack, O-Beinen und einem entschlossenen, ja verbissenen Gang. Sie trug ein langes weißes Kleid und einen weißen Sonnenhut.
    Die Straße führte dicht an seinem Felsen vorbei, fast direkt unterhalb davon, und Isaac, der nicht gesehen werden wollte, obwohl er nicht hätte sagen können, warum, kroch hinter einen größeren Stein, als die
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