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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy
Autoren: Mark O'Sullivan
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der meiner Mutter eine Lüge auftischt. Alles hat auch eine komische Seite, stimmt’s?
    »Du bist ein Schwindler, Jimmy«, sage ich. »Es waren zwei.«
    »Vielleicht zwei kleine«, sagt er leise.
    Dann senkt er wieder den Kopf. Jetzt kommt das mit der Armbanduhr. Aus der Reha weiß ich, dass es ein Zeichen dafür ist, dass er sich aufregt und dass man ihm bald was von seinen Medikamenten geben muss, damit er sich wieder beruhigt. Die übergroße Digitaluhr, mit der er bei seinen Laufrunden immer die Zeit gestoppt hat, ist so ziemlich das Einzige, was bei dem Unfall heil geblieben ist. Jetzt will er sie Tag und Nacht nicht mehr abnehmen. Und wenn ergestresst ist, beginnt er die kleinen Knöpfe zu drücken und draufzuschauen, als wäre er für irgendwas zu spät dran oder würde auf irgendjemanden warten. Er hat diesen Ausdruck im Gesicht wie jemand, der zum Galgen geführt wird. Sein Blick fliegt zwischen der Uhr und der Keksdose auf dem Tisch hin und her.
    »Dann nimm noch einen, Jimmy«, sage ich.
    Plötzlich fährt er aus seiner gekrümmten Haltung auf und stößt mit dem Ellbogen die Keksdose vom Tisch, absichtlich. Ich habe immer noch Tom auf dem Arm und kann die Dose nicht auffangen. Gleich darauf bricht die Hölle los. Der Knall beim Aufprall der Dose auf den harten Fliesenboden hat Tom geweckt. Er wirft einen Blick auf Jimmy und fängt an zu schreien. Tom klammert sich an mir fest, dass er mich fast erwürgt, und seine Schreie erschrecken Jimmy, der aufsteht und die Flucht ergreifen will.
    »Es ist doch nur D…« Fast rutscht mir das Wort heraus. »Es ist doch nur Jimmy.«
    »Ich hab’s nicht gewollt«, sagt Jimmy.
    Wir haben ihn im Rehazentrum in Panik geraten sehen, aber das hier ist was anderes. Das ist zu Hause. Wir müssen hier leben.
    Tom hebt den Kopf von meiner Schulter und sieht Jimmy an. Er hat die Stimme wiedererkannt, da bin ich mir sicher. Dann sieht er mich an, als könnte ich ihm die Sache erklären. Aber ich kann es nicht. Ich halte ihn, so fest ich kann, ohne ihm wehzutun.
    Mam legt den Arm um Jimmy und schiebt ihn weg vom Tisch. Ihr Gesicht ist grau. Vielleicht sind wir alle grau im Gesicht. So fühlt es sich jedenfalls an. Wir sind die Gespenster der Familie, die vor dem Unfall hier gewohnt hat.
    »Tom ist erschrocken, das ist alles«, sagt Mam und dirigiert Dad zur Tür. »Komm, wir schauen uns dein Zimmer an, Jimmy!«
    Er schaut über die Schulter zurück zu Tom und mir.
    »Die mögen mich nicht«, sagt er.
    »Natürlich mögen sie dich, Jimmy«, sagt Mam, dann sind sie fort.

3
    Tom schläft wieder, endlich. Ich liege neben ihm, und während ich lausche, ob Sean nach Hause kommt, gehen meine Gedanken im Kreis. Wenn ich die Hintertür knarren höre, muss ich runter. Tom wollte das Buch, das ich ihm vorgelesen habe, dreimal hören. Es war keins von Dad. Das schaffe ich nicht. Ich kann Dads Bücher nicht mal ansehen, geschweige denn laut daraus vorlesen. Ich bezweifle, dass ich das je wieder können werde. Sowieso sind alle seine Bücher in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock, das keiner von uns mehr betritt.
    Alles ist dort noch genau so, wie er es zurückgelassen hat. Die Bücherregale. Die alte hölzerne Schaufensterpuppe, die aus einem Trödelladen in Waterford stammt. Die hohen Stapel Zeichnungen auf dem Fußboden. Das Architekten-Zeichenbrett, an dem er arbeitete. Der große Porzellanbierkrug, in dem er seine Stifte, die USB-Sticks und all so was aufbewahrte. Sein Wahlspruch auf dem Krug: Was man sät, das wird man ernten. Der hohe Drehstuhl, auf dem ich als Kind Karussell gefahren bin. Seine letzten Zeichnungen sind noch ans Brett gepinnt. Sie zeigen Peter, den Panzer.
    Peter ist ein Panzer, der nicht mehr in den Krieg will. Er will lieber mit den Elefanten spielen, also tut er so, als wäre er ein Elefant. In den Büchern davor hat er so getan, alswäre er eine Giraffe, eine Teekanne und ein Straußenvogel, aber immer wurde er durchschaut und weggeschickt. Die Botschaft lautet natürlich, dass er lernen soll, er selbst zu sein. Dad wir das jetzt auch noch mal von vorn lernen müssen. Dabei hat er schon ein ganzes Stück Weg zurückgelegt.
    Zuerst haben sie uns gesagt, dass er vielleicht nie wieder aus dem Koma erwacht. Nach zwei Wochen waren wir so weit, dass wir ihnen glaubten. Und so schrecklich es war, ihn da liegen zu sehen – auf der Intensivstation und an alle möglichen Monitore und Schläuche angeschlossen –, es war immer noch er. Immer noch unser Dad. Der immer noch
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