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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy
Autoren: Mark O'Sullivan
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sich nach seinem eigenen Entwurf hatte bedrucken lassen. Die Zeichnung über dem Spruch zeigt eine erschöpfte Frau mit Lockenwicklern und einer Zigarette, die ihr von der Unterlippe hängt. Neuerdings trage ich die Schürze.
    »Was magst du essen?«
    »Irgendwas«, sagt er, aber fast im gleichen Atemzug fragt er: »Gibt’s Schokokekse? Und Milch?«
    »Da bin ich mir ziemlich sicher – aber nicht zu viele Kekse, okay?«
    Verdammt, da ist wieder dieser Ton, als wäre er ein Kind. Er senkt den Kopf und ist beleidigt. Die Sache ist die, dass Dad ziemlich zugenommen hat. Vor dem Unfall hat er oft gejoggt und zweimal die Woche mit seinen Kumpels Fußball gespielt. Das hat ihn in Form gehalten. Jetzt sprengt sein Bauch fast das blaue Fußballtrikot.
    »Zieh deine Jacke aus und mach’s dir gemütlich!«, sage ich.
    Er sitzt am Tisch, bestaunt mit offenem Mund die Küche, und ich möchte schreien. Du musst dich doch an irgendetwas hier erinnern! An den cremefarbenen Herd, in dem du dunkles Brot gebacken hast. Die Regale für den Wein, die du neben der Tür angebracht hast. Die Kühlschrankmagnete, die du ständig gekauft hast: »Du musst nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten – aber es hilft!« Oder: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe gern auf morgen!«
    »Hier, Jimmy. Es gibt leider nur noch ganz wenige.«
    Er ist enttäuscht, dass nur zwei Schokokekse auf dem Teller liegen. Dann kommt Mam angehetzt, als ginge wieder mal ein ganz gewöhnlicher Tag zu Ende. Sie hört den Anrufbeantworter ab, setzt den Wasserkessel auf und redet, nur um etwas zu sagen.
    »Bis Abbeyleix war der Verkehr gar nicht so schlimm … aber dann ging die Tankanzeige an, und wir mussten von der Autobahn runter nach Urlingford … dort gibt’s jetzt ein nettes italienisches Lokal, das ich noch gar nicht kannte …«
    Ich weiß nicht, wie sie das schafft. Und Dad folgt jedem ihrer Worte, als würde sie was unglaublich Wichtiges erzählen.
    Die Leute halten Mam für kalt, weil sie glauben, dass sie viel zu nüchtern und sachlich mit dem umgeht, was passiert ist. Man kann es ihnen an den Augen ablesen, dass sie das denken. Aber Mam war noch nie der Schmusetyp. Und mir ist es lieber so, egal was die Leute denken. Mam war auch nie das große Muttertier. Sie hatte ihr eigenes Leben und musste nicht jede Minute für uns da sein. Da war immer auch ihr Job beim Sozialamt. Oder ihre Leidenschaft für den Chor, in dem sie gesungen hat. Oma Rogan war auch so. Praktisch, unabhängig und dauernd auf Trab.
    Oma Rogan starb, als ich acht war. Ich kannte sie nicht so gut. Sie war schon vor Jahren weit weg nach New York gezogen, gleich nachdem ihr Mann gestorben war. Ich habe sie vielleicht drei- oder viermal in meinem Leben gesehen. Mam fuhr ein paarmal nach New York, aber sie mochte den Mann nicht, mit dem ihre Mutter dort gelebt hat. Er war ihr zu laut und zu reaktionär. Sie und ihre Mutter waren sich einig, dass sie sich uneinig waren. Oma Rogan lebte ihr Leben weiter und Mam ihres. Typisch Mam.
    Jetzt sehe ich ihr zu, wie sie sich in der Küche bewegt, und ich merke, wie sie sich verändert hat. Sie hat nie was Besonderes mit ihren langen blonden Haaren gemacht, und sie ist auch keine von den Frauen, die einen Haufen Schminke benutzen oder teure Kleider tragen. Ich fand immer, das brauchte sie alles nicht. Aber jetzt spannt sich die Haut über ihre Wangenknochen und ihre Stirn, dass man schwören könnte, sie hat sich Botox spritzen oder sonst was machen lassen. Sie sieht nicht mehr echt aus. IhrGesicht sieht aus, wie sich meins anfühlt: steif und wund vom So-Tun, als würde man lächeln.
    Ich erinnere mich, wie sie mir mal von dem Novembertag erzählte, an dem sie und Dad geheiratet haben. Wie bitterkalt es war, als sie ins Freie gingen, um in einem Hotelgarten die Hochzeitsfotos machen zu lassen. Und wie ihr Gesicht den ganzen anschließenden Empfang über zu einem wahnsinnigen Lächeln gefroren blieb. Dad, der zugehört hatte, sagte: »Wenn ich ehrlich sein soll, Eala: Ich dachte, ich hätte nicht deine Mutter, sondern eine der Hexen aus ›Macbeth‹ geheiratet!«
    »Aufgegessen«, sagt Dad. »Ich hab noch Hunger.«
    »Wie viele Kekse waren das?«, fragt Mam. Dann wischt sie ihm ein paar Krümel aus dem Mundwinkel und zieht schnell die Hand zurück, als sie merkt, was sie tut.
    »Nur einer«, sagt er todernst.
    Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Er ist ein Kind, das noch einen Keks möchte, sage ich mir, und nicht mein Vater,
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