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Jimmy, Jimmy

Jimmy, Jimmy

Titel: Jimmy, Jimmy
Autoren: Mark O'Sullivan
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ging. Sein Vater, Trigger Healy, ist ein stadtbekannter Dealer, und es heißt, er hätte seinen vierzehnjährigen Sohn manchmal als Kurier losgeschickt. Wahrscheinlich tut er’s immer noch. Er hat es schon mit seinem älteren Sohn Sham so gemacht, der am Ende wegen Handels mit Ecstasy im Jugendknast gelandet ist. Ein schöner Vater.
    Dad joggt also, denkt nach und hört Musik. Er ist jetzt nah genug bei der Ecke, wo es in unsere Straße geht, sodass er das Straßenschild sehen kann. Er sieht auch die Autos, deren Fahrer mit dem Fuß auf dem Gaspedal auf Grün warten, aber nicht den Jungen, der jetzt, um den restlichen Bodenschwellen auszuweichen, den Bürgersteig entlangrast.»Jimmy, Jimmy«, »You’ve Got My Number« oder »Teenage Kicks«? Ein Song lauter und schneller als der andere, sodass es im Grunde genommen keinen Unterschied macht. Dad hätte sowieso nichts gehört, nicht das Quietschen und Jaulen der Felgenbremsen, als die Ampel für den Jungen auf Rot schaltete, und nicht das Wimmern wie von einem ganzen Rudel Katzen, als die Fahrradreifen auf den nassen Blättern Halt suchten.
    Dann biegt Dad um die Ecke in unsere Straße, und das Geschoss in Gestalt eines vierzehnjährigen Jungen mit einem harten Fahrradhelm auf dem Kopf trifft ihn genau an der Stirn. Es ist, als würde er wie ein Baum gefällt, und sein Kopf knallt so hart gegen den grob verputzten Sockel des Eckhauses dort, dass es ihm die Schädeldecke zertrümmert. Dann stürzt er durch die Jahre wie der Passagier einer bösen Zeitmaschine.
    Es vergingen ein paar Minuten, keine Ahnung, wie viele genau, bis ich das Heulen der Sirene hörte, als der Krankenwagen kam. Ich kann ehrlich nicht sagen, dass ich gleich wusste, dass Dad in Schwierigkeiten war. Ich hörte den Kies in unserer Einfahrt knirschen und schaute hinunter. Es war nicht Dad, der zurückkam. Es war Mam, die wegging. Auf dem Bürgersteig fing sie dann an zu rennen. Da wusste ich es. Ich rannte die Treppen hinunter und aus dem Haus. Als ich näher kam, sah ich eine fremde Frau auf dem Bürgersteig knien und Dads Kopf halten, als könnte er auseinanderbrechen, wenn sie ihn losließ. In dem Moment erlischt auch meine Erinnerung. Nur kam seine nicht wieder zurück.
    Als er im Krankenhaus aufwachte, befand er sich auf dem geistigen Niveau eines Zehnjährigen ohne klare Erinnerungan irgendetwas, das ihm in seinem bisherigen Leben passiert war. Die Ärzte und Psychologen können nur sagen, dass seine Erinnerungen ein kaputtes Puzzle sind, ein wildes Durcheinander von Puzzleteilen, und zu viele sind auch für immer verloren. Die meiste Zeit, hat uns Dr. Reid vom Rehazentrum erklärt, befindet er sich in einem Zustand ängstlicher Unruhe, wie jemand, der aus einem Albtraum erwacht, an dessen Details er sich nicht mehr erinnern kann. Er weiß immer noch nicht, wer wir sind. Er erkennt Mam nicht. Keinen von uns. Er weiß nicht, wer er war oder ist. Und heute bringt Mam ihn nach Hause.
    Sean hängt irgendwo mit Brian Dunphy ab, wie in letzter Zeit fast jeden Abend. Ich wette, sie spielen im Hinterzimmer von Brady’s Bar Poolbillard und schütten sich mit Cider zu. Tom ist, an seinen grünen Plastiktraktor gekuschelt, auf meinem Bett eingeschlafen. Er hat stundenlang wie aufgedreht im Haus herumgetobt, darum sind seine blonden Haare jetzt klatschnass. Manche Kinder drehen halbstundenweise auf, Tom halbtageweise. Mir macht das nichts aus. Ich finde, wenn du dich mit kleinen Kindern beschäftigst, mit ihnen lachst, dich meinetwegen sogar mit ihnen streitest, kannst du alles vergessen, was dich sonst bedrückt. Jedenfalls für eine Weile.
    In der Ruhe nach dem Hurrikan Tom stehe ich am Fenster, aber ich schaue nicht auf die Straße. Ich betrachte mein Spiegelbild in der Scheibe, die makellos fallenden roten Locken der Perücke, die ich in dem Musical getragen habe. Und ich summe »Tomorrow«. Das Musical war »Annie«, und ich habe das kleine Waisenmädchen gespielt. Die Perücke setze ich auf, um Tom zum Lachen zu bringen. In letzter Zeit ist das manchmal das Einzige, was funktioniert.
    Ein Auto kommt die Straße herauf. Ich sehe es nicht, aber ich höre, wie es seufzend langsamer wird, und weiß, dass es unseres ist. Verrückt, dass man die Geräusche eines Autos mit der Zeit genauso wiedererkennt wie das Weinen eines kleinen Bruders in einem Raum voller Babys auf der Entbindungsstation.
    Das Auto biegt in unsere Einfahrt. Ich nehme die dämliche Perücke ab und setze ein Lächeln auf. Eins von der
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