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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen
Autoren: Lisa Gardner
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    Prolog
    Danielle
     
    An die Nacht damals erinnere ich mich heute nur noch vage. Anfangs scheint es, als könne man nie vergessen. Aber die Zeit ist eine Nebelmaschine, besonders für Kinder. Und mit den Jahren verlieren Details an Konturen. Dr. Frank spricht von Bewältigungsstrategien der Psyche, die sich selbst zu heilen versucht. Das sei ganz natürlich und kein Grund für Schuldgefühle.
    Die habe ich aber trotzdem.
    Ich erinnere mich, von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Vielleicht hat meine Mutter geschrien, aber laut Polizeibericht muss es eher meine Schwester gewesen sein. Es war dunkel im Zimmer. Ich konnte nichts sehen, hatte keine Orientierung. Und da hing dieser Geruch in der Luft. Daran erinnere ich mich nach all den Jahren am deutlichsten, an das, was wie Rauch roch. Von einem Feuer, dachte ich, aber tatsächlich waren es Korditschwaden, die vom Flur herbeizogen.
    Geräusche. Ich konnte zwar nichts sehen, aber hören: Schritte und etwas Schweres, das die Treppe hinunterfällt. Dann die laute Stimme meines Vaters vor der Tür zu meinem Schlafzimmer.
    «Oh Danny girl. My pretty, pretty Danny girl.»
    Die Tür öffnete sich. Ein heller rechteckiger Fleck vor schwarzem Hintergrund und die Silhouette meines Vaters auf der Schwelle.
    «Danny girl»,
trällerte er.
«My pretty, pretty Danny girl.»
    Dann richtete er die Waffe auf seine Stirn und drückte ab.
     
    Ich weiß nicht mehr, was unmittelbar darauf passierte. Bin ich aus dem Bett gesprungen? Habe ich die 911 angerufen? Habe ich versucht, meine Mutter wiederzubeleben? Oder habe ich mich vielleicht um meine Schwester gekümmert, die aus dem Kopf blutete, oder um meinen Bruder, der mit verrenkten Gliedern vor dem Treppenabsatz lag?
    Ich erinnere mich, dass schließlich ein Mann ins Zimmer kam. Er sprach mit ruhiger Stimme, sagte, dass jetzt alles okay und ich in Sicherheit wäre. Er hob mich auf seine Arme, obwohl ich schon neun und viel zu groß war, um wie ein Baby behandelt zu werden. Er sagte, ich solle die Augen zumachen.
    Ich legte den Kopf an seine Schulter, behielt aber trotzdem die Augen auf.
    Ich musste es sehen, festhalten. Mich erinnern können. Das ist die Pflicht des einzigen Überlebenden.
     
    Laut Polizeibericht war mein Vater in dieser Nacht betrunken. Er hatte mindestens eine Flasche Whisky intus, als er seine Dienstpistole lud. In der Woche zuvor war ihm der Job im Sheriffbüro gekündigt worden, nach zwei Abmahnungen wegen Trunkenheit. Sheriff Wayne, der mich aus dem Haus trug, hatte gehofft, die Kündigung würde meinen Vater zur Besinnung bringen und ihn veranlassen, etwas gegen seine Sucht zu unternehmen, zum Beispiel zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Aber offenbar hatte mein Vater anderes im Sinn.
    Er fing im Elternschlafzimmer an und erwischte meine Mutter neben ihrem Bett. Dann war meine dreizehnjährige Schwester dran, die ihren Kopf aus ihrem Zimmer rausgestreckt hatte, wahrscheinlich um zu schauen, was draußen vor sich ging. Auch mein elfjähriger Bruder kam auf den Flur. Er versuchte wegzulaufen. Mein Vater schoss ihm in den Rücken, und Johnny stürzte die Treppe hinunter. Er war nicht sofort tot und musste sich noch lange quälen.
    Daran erinnere ich mich natürlich nicht. Ich erfuhr von alldem aus Polizeiberichten an meinem achtzehnten Geburtstag.
    Ich suchte nach Antworten, die ich aber nie finden sollte.
    Mein Vater hat unsere ganze Familie ausgelöscht. Nur mich verschont. Heißt das, dass er mich am meisten liebte oder am meisten hasste?
    «Was glauben Sie?», fragte mich Dr. Frank ein ums andere Mal.
    Ich schätze, das ist die Frage meines Lebens.
     
    Ich wünschte, mit Bestimmtheit sagen zu können, welche Augenfarbe meine Mutter hatte. Sie werden wohl blau gewesen sein, denn die ihrer Schwester Helen, bei der ich anschließend aufgenommen wurde, sind ebenfalls blau, und nach den Fotos zu urteilen, die mir erhalten geblieben sind, waren die beiden einander zum Verwechseln ähnlich.
    Allerdings ist auch das ein Problem für mich. Tante Helen gleicht ihr so sehr, dass ich nach all den Jahren immer nur sie vor Augen habe, wenn ich mir meine Mutter vorzustellen versuche. Ich höre ihre Stimme, spüre ihre Hände, die mich beim Zubettgehen in die Decke einmummeln. Und das schmerzt mich, weil ich meine Mutter zurückhaben möchte. Doch sie ist verschwunden. Mein verräterisches Gedächtnis hat sie gründlicher ausgelöscht, als es mein Vater vermocht hatte. Deshalb
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