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Terra Anchronos (German Edition)

Terra Anchronos (German Edition)

Titel: Terra Anchronos (German Edition)
Autoren: Andree Leu
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Das Signal
    Die Glocke des Gemeindehauses hatte sich nur schwer gegen das Tosen des Sturmes durchsetzen können. Ihr heller Klang war immer wieder vom Wind zerrissen worden. Nur in Bruchstücken war ihr Ruf zu den Bewohnern des Dorfes durchgedrungen. Diejenigen, denen das aufgeregte Läuten entgangen war, waren von ihren Nachbarn in die Stube des Deichgrafen gerufen worden.
    Mit sorgenvollen Gesichtern, vom Wetter zerzaust und mit Entschlossenheit im Blick, hatten die Männer dagesessen. Nicht einmal ihre schweren Regenjacken hatten sie ausgezogen, nur die vom Dreck verschmierten Gummistiefel. Ihre breitkrempigen Hüte drehten sie in den Händen und sahen den Frauen zu, die Tee mit Rum und braunem Kandiszucker servierten. Es lag ein unheilvolles Schweigen in der Luft, das nur von dem gelegentlichen Klirren der Löffel beim Umrühren der heißen Getränke und dem vorsichtigen Schlürfen der Männer unterbrochen wurde. Niemand beachtete den Jungen, der still zwischen den Männern saß und bang von einem zum andern blickte. Ein herber Schweißgeruch stieg von den Wollsocken der Männer auf. Doch keine der Frauen verlor auch nur ein einziges Wort darüber. Niemand rümpfte die Nase oder warf einen vorwurfsvollen Blick auf die Füße, die den s onst unerwünschten Geruch verströmten. Daran hatte der Junge erkannt, wie ernst die Lage war. Er saß zwischen den Männern und wartete mit ihnen zusammen auf den Deichgrafen. Er war der Einzige, der noch draußen war und den Deich auf Schäden untersuchte.
    Er allein konnte wissen, wie lange der Wall gegen die Nordsee noch standhalten würde. Als die Tür aufging und der Deichgraf mit einem heftigen Windstoß in die Stube getrieben wurde, stand er lange Zeit da und sah schweigend in die Runde. Immer wieder wanderte Arnes Blick durch das kleine, offen stehende Giebelfenster der gedrungenen, sich im stetigen Wind der Nordseeküste duckenden Scheune. Die ersten Möwen schossen schon mit heiserem Geschrei über die Deichkrone und traten den Rückzug an. Noch spielten sie, doch Arne wusste, dass ihr Erscheinen zu dieser Tageszeit mehr als ungewöhnlich war. Sein Blick schweifte weit über die grüne Anhöhe des Deiches hinweg auf die immer dunkler werdende Nordsee. Sturmwolken formierten sich am Himmel, wurden von einem Wind getrieben, der schon jetzt das Radfahren auf der Deichkrone fast unmöglich machte.
    Würde auch heute wieder das helle Klingen der Glocke des Gemeindehauses zu hören sein?
    In den letzten Stunden war die frohe Stimmung des Jungen einer stetig wachsenden Sorge gewichen, die allmählich sein gesamtes Denken in Anspruch nahm.
    Keine Zeile des in seinem Schoß liegenden Buches konnte er lesen, ohne immer wieder kopfschüttelnd  aufzublicken. Seit geraumer Weile lag es unbeachtet vor ihm. Wie oft schon hatte er den letzten Satz, auf dem immer noch sein Zeigefinger ruhte, aufs Neue gelesen? Und doch fand Arne keinen Zugang zum Sinn des Geschriebenen, obwohl es dem Jungen an Interesse, dem Buch an Spannung nicht fehlte.
    Wann würde das endlose Warten vorbei sein?
    Arne dachte an seinen Vater, der ihm oft Geschichten erzählte. Eine davon war die des Schimmelreiters, der vor langer Zeit als Deichgraf für das Schicksal der Menschen verantwortlich gewesen war. Man hatte ihn zwingen wollen, etwas Lebendiges im Deich zu vergraben, damit er halten konnte. Das mochte ein Tier sein, vielleicht ein Schaf oder ein Hund. Doch eigentlich war die kleine Tochter des Deichgrafen gemeint.
    Das Gefühl eines leichten Gruselns befiel den Jungen, während er sich an diese Geschichte erinnerte.
    Trotz des kalten Schauers, der ihm über den Rücken lief, war Arne etwas enttäuscht, dass die Versammlung der Männer im Haus des Deichgrafen nicht ähnlich düster zu Ende gegangen war. Arne wusste es noch ganz genau, denn schließlich war er selbst der Junge gewesen, der damals wartend zwischen den Männern gesessen hatte.
    Der Deichgraf hatte letztendlich in aller Seelenruhe die Stiefel ausgezogen, den Hut an den Haken neben der Tür gehängt und den triefend nassen Mantel seiner Frau gegeben. Nachdem er langsam eine Tasse Tee  getrunken hatte, sah er die Männer an und sagte, dass der Deich halten würde. Alle sollten nach Hause gehen und ein Feuer im Kamin machen. Das sei das Beste, was man bei diesem scheußlichen Wetter tun könne.
    War da sein Name gerufen worden? Vorsichtig stellte Arne sich auf die Zehenspitzen und schaute durch das runde Giebelfenster auf den Hof. Viel erkennen
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